Der heute 18-Jährige wurde als Neunjähriger schwer herzkrank; musste unzählige Male im Krankenhaus behandelt werden. 2017 bekam er ein Spenderherz (wir berichteten damals ausführlich). „Die Ärzte haben immer gesagt: ,Schreiben Sie doch mal mit.'“, erinnert sich Olaf Thamm. Weil sein Sohn ihn sicher irgendwann nach Details fragen werde. „Deshalb habe ich immer alles mitnotiert“, sagt der Physiotherapeut. Drei Jahre hat er gebraucht, nun ist sein Buch erschienen. Und trotz aller Dramatik, macht die Geschichte auch Hoffnung und ist an einigen stellen sogar richtig witzig.
Station K3, Zimmer 30, Kinderklinik Heidelberg – das war lange Zeit das Zuhause von Lukas und seinem Vater, während sie auf ein Spenderherz für den Jungen warteten. Anderthalb Jahre lebten die beiden dort zusammen mit ständig wechselnden Zimmergenossen: mit netten Menschen, die zu Freunden wurden, mit arroganten Zeitgenossen und mit wasserscheuen Exemplaren, die jegliche Körperpflege ablehnten. Im Buch heißt es: „Ja, unser Zimmer war eben nicht nur für uns allein da. So lernten wir viele verschiedene Menschen, Krankengeschichten, Charaktere und Nationalitäten kennen – eine große Bandbreite an Typen – alles, was ihr euch so vorstellen könnt. [...] Der Mensch in seiner ganzen Pracht – bei uns im Zimmer 30.“
Olaf Thamm ist die ganze Zeit bei seinem Sohn im Krankenhaus, Mutter Ulla hält zu Hause die Stellung, geht arbeiten und kümmert sich um die beiden Töchter: eine Extremsituation für die ganze Familie. „Man funktioniert da einfach nur noch“, sagt Olaf Thamm im Gespräch mit unserer Zeitung. Im Buch schreibt er: „Eineinhalb Jahre, eine verdammt lange Zeit. [...] Und bei dieser langen Zeit waren die meisten Tage immer gleich. Von morgens bis abends, immer der gleiche Ablauf, der gleiche Rhythmus, das gleiche Geschehen. Und Woche für Woche auch das gleiche Essen. Krankenhauskost.“
Am 8. April 2017 ändert sich schließlich alles für Lukas und seine Familie: Es gibt ein passendes Spenderherz für ihn. Die 13-stündige Operation am folgenden Tag, bei der es eine Komplikation gibt, verlangt Lukas viel ab, doch sie gelingt. Seitdem feiert der Teenager an jedem 9. April seinen zweiten Geburtstag. „Das ist seit vier Jahren ein Ritual“, erzählt Mutter Ulla. Die Thamms feiern damit nicht nur Lukas' Weiterleben, sondern zollen damit auch dem Spender Respekt, von dem sie nur wissen, dass er aus Bayern stammt und im Alter von 30 Jahren verstarb.
Lukas geht es derzeit gut, auch wenn er nach der Transplantation einen Rückschlag zu verkraften hatte: 2019 musste er wegen einer Abstoßreaktion drei Monate im Krankenhaus behandelt werden. Alle drei Monate geht's zur Kontrolluntersuchung nach Heidelberg, einmal im Jahr machen die Ärzte eine Herzkatheteruntersuchung mit Biopsie, um die Abstoßungsreaktion zu bestimmen. Damit sein Körper das neue Herz weiterhin akzeptiert, muss Lukas 25 Tabletten am Tag nehmen. Die Immunsuppressiva schalten sein Immunsystem aus und machen den Jungen oft müde. Und Dinge, die für andere Menschen selbstverständlich sind, stellen für Lukas eine Gefahr dar, erzählen seine Eltern. Will Lukas zum Beispiel beim Zahnarzt eine Zahnreinigung machen lassen, bekommt er vorsorglich Antibiotika. Denn selbst winzige Verletzungen im Zahnfleisch können für einen Menschen mit Spenderorgan böse Folgen haben. Überhaupt ist Hygiene das A und O: Mama Ulla wechselt ständig die Spültücher aus, stellt ihrem Sohn alle zwei Wochen eine neue Zahnbürste hin. „Den Salat putzen wir fünfmal“, erzählt sie. Erdbeeren, Eiscreme, alles, was nicht geschält oder durchgegart werden kann, ist tabu. „Das Problem sind die Schimmelsporen.“ Auch mit Alkohol muss Lukas vorsichtig sein.
Das Buch „Zimmer 30“ ist in allen Buchhandlungen erhältlich und kostet 14,90 Euro. Es hat die ISBN 9 783752 619508.
Und dann ist da natürlich noch Corona. „Davor haben wir einen Riesenrespekt“, sagt Olaf Thamm. Denn noch weiß niemand, ob die Impfung bei Lukas überhaupt anschlägt. Deswegen ist größte Vorsicht angebracht: Bei der Verbandsgemeindeverwaltung Rüdesheim, wo Lukas eine Ausbildung zum Verwaltungsfachangestellten absolviert, sitzt er aus Infektionsschutzgründen allein in einem Büro. Doch das bremst ihn aus, neue Leute kennenlernen kann er so nicht. Und Partys, Weggehen, Mädchen treffen, diese Dinge sind auch erst einmal auf unbestimmte Zeit verschoben.
Trotz aller Widrigkeiten ist Lukas eine Frohnatur: „Der hat die Ruhe weg“, sagt Ulla Thamm. „Wir sind dankbar, dass es ihm gut geht.“