„Ich kann mir nicht vorstellen, dass spätere Zeiten glauben, wie es bei uns war, wie tief wir standen, welche Gemeinheit und Niedrigkeit um uns herrschten.“ Das ist der erste Satz in den Memoiren von Alfred Behrens, der während des Zweiten Weltkriegs als Chefarzt das Diakonie-Krankenhaus in Bad Kreuznach leitete. Sein Tagebuch, das seine Kinder 1999 als Buch publizierten, ist grauenhaft zu lesen.
Interessant sind natürlich die Beschreibungen des bedrohlichen Alltags kurz vor Kriegsende, aber auch der unglaublich schweren Zeiten, die direkt nach der Niederlage folgten.

Behrens, geboren 1895 in Niedersachsen (gestorben 1969), wurde als städtischer Mediziner auch für den Dienst im Luftschutzbunker des Kauzenbergs verpflichtet – so wie andere Kreuznacher Ärzte. Alle vier Wochen war man als lokaler Arzt dran. Es findet sich heute noch der gemauerte medizinische Behandlungsraum in einem der Stollengänge, deren Eingang ja zu einem kleinen Museum im „Kalten Loch“ hergerichtet wurde.

Zum 30. Januar 1945 hatte Behrens seinen ersten Dienst im Bunker absolviert und war schockiert: Weil der Eingang im „Kalten Loch“, der ja heute noch existiert, am einfachsten zu erreichen war, kam es hier bei Alarm zu großem Gedränge. Eine kranke Frau ging die Stufen hinunter, wurde von der Schutz suchenden Meute zu Fall gebracht, unten trampelten alle panisch über sie hinweg. Schwere Trittverletzungen waren die Folge...
Primitive Toiletten in den Stollen
„Sehr schlechte Lokusanlagen, sehr primitiv“, so Behrens zu den drei, vier gemauerten Kabinen, die heute noch im Bunker zu sehen sind (siehe Fotos). Hier gab es nur Eimer, und natürlich hatte niemand große Lust, die mit Exkrementen gefüllten Behälter hinauszuschleppen – demnach stank es in den Stollen gewaltig.





„Alle Augenblicke fallen Steine runter“, so Behrens. Denn der Fels sei „weich und durch die Sprengungen sehr gelockert“. Behrens spricht davon, dass die Stollen im Kauzenberg ein Fassungsvermögen von 7000 bis 8000 Menschen gehabt hätten, es seien sogar schon bis zu 12.000 Schutzsuchende darin untergekommen. Wer heute in diesen Gängen unterwegs ist, kann nur den Kopf schütteln. Die Fantasie reicht nicht aus, sich dieses Gedränge hier unten vorzustellen.

Es gab im Bunker auch keine Extra-Räume für infektiös Kranke. Also saßen die von Masern befallenen Kinder zwischen all den anderen, das werde gewiss zu „Scharlach und Diphterie“ führen, so Behrens. „Erschreckend, wie die Leute verdrecken“, so Behrens. „Eine erhebliche Verlausung ist schon da, die Krätzefälle im Bunker geschätzt 50 bis 60.“ Seine Beschreibung der Sanitäranlagen: „Die Klosetts doll gebaut, oben offen, so dass die ganze Umgebung stinkt. Am schlimmsten das große Klo am Eingang. Da die Sitze zu hoch sind und da die Mütter zu faul sind mitzugehen, setzen sich die Kinder daneben. Dadurch läuft die Bescherung aus dem Klo in den Gang.“
Junge Leute fliehen vor dem Kriegsdienst
Behrens berichtet auch vom Diakonie-eigenen Bunker, der rund 800 Menschen Platz bot und den es heute noch gibt (kein Zugang). Der liege unter 14 bis 16 Metern Fels, da „geht keine Bombe und keine Granate“ durch. Weil der Andrang aus den benachbarten Wohnsiedlungen so heftig war, mussten der Zugang von Soldaten geregelt werden, sodass vor allem Frauen mit Kindern hineinkamen.
In Behrens´ Tagebucheinträgen rund um das Ende des Krieges findet sich die Resignation. Es warteten alle nur noch auf das Eintreffen der Amerikaner, ja es werde regelrecht herbeigesehnt, damit endlich Schluss sei. Wie irrwitzig das System aber immer noch agierte, beschreibt der Chefarzt kopfschüttelnd: Es gebe weiter Versuche, Jugendliche in den Kriegsdienst zu zwingen – mit den entsprechenden Reaktionen der Eltern. „Ich hörte von Dörfern, in denen Eltern geschlossen die Hergabe der Kinder verweigerten. In Stromberg sind die Jungen in den Wald geflüchtet, um nicht von den Parteileuten gefangen und abgeschleppt zu werden.“

Giftig Behrens´ Worte zu den Nazi-Schergen im Tagebuch-Eintrag vom 16. März 1945: „Die Parteileitung haute heute Morgen ab, ebenso die Führung der Hitlerjugend. Natürlich! Immer ordentlich das Maul auf und dann die ersten, die ausreißen.“ Am selben Tag hörte Behrens die große Detonation aus der Stadt, die Sprengung der Brücken. Einen Tag später steht unter „18 Uhr“: „Eben sind von Hackenheim die ersten Panzer eingerollt.“ Am 2. Mai schrieb Behrens zornig: „Immer noch keine endgültige deutsche Kapitulation. Ein Verbrechen an unserem Volk.“
Tausende „verhungert und mager“
„Am 8. Mai 23 Uhr schweigen die Waffen.“ Verkündete Admiral Karl Dönitz am 8. Mai. Am 9. Mai findet sich in Alfred Behrens´ Tagebuch kein Wort vom offiziellen Kriegsende – das war faktisch in Kreuznach ja schon längst eingetreten, die Amerikaner waren in der Stadt, die Lager bei Bretzenheim und Kreuznach-Südost füllten sich täglich mit deutschen Soldaten, deren Anblick Behrens grauste. „Verhungert und mager“, schrieb er, „sie rufen nach Brot.“ Es stürben täglich bis zu 80 Gefangene, das werde zumindest aus dem Bretzenheimer Lager berichtet.
Behrens brachte aber auch Humor auf. Er erzählt von einem Treffen einiger „Akademiker“ in einer Kreuznacher Kneipe nach Kriegsende: „Doktor K. flüsterte seinem Nachbar etwas zu, sah sich vorher nach rechts und links um, ob auch keiner zuhörte.“ Plötzlich hätten alle schallend lachen müssen, denn: „Jetzt können wir ja frei reden. Aber so weit hatte man uns gebracht, so waren wir es gewohnt.“
Bittere Perspektiven eines Chefarzts: „Alles wird draufgehen“
Bezeichnend die folgenden Passagen des Tagebuchs von Diakonie-Chefarzt Dr. Alfred Behrens – denn sie machen deutlich, wie von Verantwortlichen mit der Schuldfrage bezüglich der Massenmorde umgegangen wurde.
- „ Ständig im Radio diese Berichte über unsere Konzentrationslager! Ich kenne ja nun die Tatsachen über die Behandlung der Geisteskranken seit 1940. (...) Aber wie konnten wir uns dagegen wehren? Wir haben es getan. Hanke (Pfarrer Johannes Hanke, Diakonie-Vorstand 1932-1957, Red.) war beim Regierungspräsidenten, ich bei der Reichsärztekammer. Wir haben beide protestiert und erklärt, dass wir mit unserem Gewissen dieses Vorgehen nicht vereinbaren konnten. Gewiss, wir haben erreicht, dass unsere Anstalt verschont blieb, da wir nicht zur Mitarbeit an diesen Dingen gezwungen wurden. Aber hätten wir durch einen energischeren Widerstand das Vorgehen der Nazis verhindern können? Ich glaube nein. Und wozu den Märtyrer spielen, wenn die Sache aussichtslos ist. Neben der Existenz der Anstalt und unserer konfessionellen Schwesternschaft hätten wir unsere eigene Existenz und unserer Familien aufs Spiel gesetzt.“ (22. April 1945)
Eine verbitterte Skepsis spricht auch aus folgenden Worten hinsichtlich der Perspektiven Deutschlands:
- „Auf `Gerechtigkeit´ werden wir kaum rechnen können. Manchmal habe ich so den Eindruck, die Gegner wollen das deutsche Volk unter allen Umständen vernichten und ausrotten, so oder so. Die moralische Begründung ist an sich gleichgültig. Aber jetzt können sie ihren Vernichtungsplänen noch ein moralisches Mäntelchen umhängen. Denn wie kann man uns, wie kann man das Volk verantwortlich machen für die Nazi-Gräuel? Wir wussten doch von diesen Sachen nichts. Und schließlich: Lebte man in Deutschland nicht auch außerhalb des Konzentrationslagers wie in einem Konzentrationslager, ohne die Möglichkeit der freien Rede und der Aussprache, bewacht und belagert von allerlei Leuten? Außer Block- und Zellenwarten wusste man nicht, wer einen beobachtete und zur Denunziation bereit war. Na, lassen wir das. In irgendeiner Form werden wir ein Kolonialvolk der Amerikaner werden, und alles wird draufgehen, was wir erarbeitet haben.“ (24. April 1945)