„Die Residenz des legendären Tebartz van Elst kann man vergessen: Der Luxus war hier“, sagt Dekan Andreas Klodt. „Die haben hier in Saus und Braus gelebt.“ Austernschalen im Westchor, Boulekugeln, ein Alchimistenlabor – die Ausgrabungen in der Mainzer Johanniskirche fördern wahrlich Erstaunliches zutage. Seit ziemlich genau vier Jahren graben sich die Forscher durch den Fußboden der evangelischen Kirche. Der gotische Bau gleich hinter dem Mainzer Dom galt bis dahin als eher unscheinbare, kleinere Kirche.
Eine Fußbodenheizung wollte die evangelische Kirchengemeinde eigentlich nur einbauen – damit begann eine Odyssee in die Vergangenheit: Immer neue archäologische Funde, immer neue spektakuläre Mauern buddelten die Wissenschaftler aus dem Erdreich. Drei bis vier Meter ist der Erdboden in der Kirche inzwischen tiefer gelegt, den Arbeiten fiel nach und nach die komplette Inneneinrichtung zum Opfer: Gestühl, Altar, schließlich die Orgelempore samt Orgel – die Johanniskirche besteht nur noch aus einer nackten Hülle.
Umso spektakulärer war, was sich im Boden auftat: Römische Fundamente und Grundmauern aus dem Jahr 680 stellten klar: Dies ist „der Alte Dom“ von Mainz. „Dies hier war die Bischofskirche des Bonifatius, hier hat er gewirkt“, sagt Klodt. Bonifatius, der große Missionar, war ab 743 Bischof von Mainz und begründete das Erzbistum, seine Bischofsvorgänger legten zwischen 640 und 680 die Grundsteine für den für damalige Zeit monumentalen Dom.
König Heinrich II. dürfte hier 1002 von Erzbischof Willigis gekrönt worden sein, ebenso sein Nachfolger Konrad II. – der große Mainzer Dom St. Martin wurde erst 1036 fertig. Der Alte Dom blieb dennoch ein bedeutendes Kirchenbauwerk und wurde im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut: Die Forscher fanden unter anderem Elemente einer romanischen Chorschranke, einen bunten Mosaikfußboden aus der Gotik und Reste einer prächtigen gotischen Lettneranlage aus dem 16. Jahrhundert.
Bei den Umbauarbeiten wurde das Bodenniveau immer wieder angehoben, den Schutt dafür nahm man aus der Umgebung. Und dieser Siedlungsschutt gibt nun die Geheimnisse des prallen mittelalterlichen Lebens wieder frei: Mehrere winzige Knochenwürfel, eine Backform in Form eines Hummers, einen Anhänger mit einem gekreuzigten Christus, diverse Fingerhüte aus Buntmetall aus dem 13. oder 14. Jahrhundert. Im März gruben die Forscher Fragmente einer Boulekugel aus dem 16. Jahrhundert aus, vor wenigen Tagen fanden sie den Hauptteil der hübschen beige-braunen Kugel.
Im Nordquerarm dann stießen die Forscher auf einmal auf jede Menge Glasreste, darunter Fragmente von Gefäßen, die eindeutig Teil eines alchimistischen Destillierapparates waren. Vermutlich wurden hier Pflanzen- und Kräuterextrakte gewonnen und Alkohol hergestellt. „Die Grabungen und die Erkenntnisse sind ein Geschenk“, schwärmt Dekan Andreas Klodt, „wir werden hier enorm bereichert.“
Bis zum Jahresende sollen die Forscher noch graben und Funde bergen, das Verstehen werde allerdings noch länger dauern, sagt der Dekan: Erst wenn das riesige Puzzle zusammengesetzt und verstanden sei, werde es eine Neukonzeption der künftigen Kirche geben können. „Man wird der Kirche am Ende ansehen, dass sie 1400 Jahre alt ist“, verspricht Klodt, „wir können das ja hier nicht einfach wieder zuschütten.“