Studie zu Historie der Klinik
Auch im Kreuznacher Viktoriastift wurden Kinder gequält
Heute arbeitet das Viktoriastift nach den modernsten Erkenntnissen der Psychologie, doch in der Nachkriegszeit litt hier auch manches Kind.
Josef Nürnberg

Ein dunkles Kapitel in der Geschichte des Kreuznacher Viktoriastiftes wird nun, Jahrzehnte später, aufgearbeitet: Das Schicksal der sogenannten Verschickungskinder, die in der Einrichtung untergebracht waren und teilweise schlimm misshandelt wurden.

Millionen Kinder wurden in der Bundesrepublik in der Nachkriegszeit bis in die 1970er-Jahre zur Kur geschickt. Ziel der sogenannten Verschickungskinder waren die 839 Kinderheilstätten und Kinderheime mit 56.608 Betten (1963). Einer dieser Orte war das Viktoriastift in Bad Kreuznach. Das Haus und dessen heutiger Träger, das Landeskrankenhaus (AöR) Rheinland-Pfalz, sind sehr an einer Aufarbeitung interessiert. Immerhin war das Viktoriastift mit seinen damals rund 350 Betten die größte Verschickungsklinik, die innerhalb von rund 30 Jahren etwa 18.000 Verschickungskinder aufnahm. Im Pressegespräch machte der kaufmännische Direktor der Klinik, Frank Müller, deutlich, mit welch großem Engagement Klinik und Landeskrankenhaus die Aufarbeitung des dunklen Kapitels des Viktoriastiftes angehen.

Der kaufmännische Direktor der Klinik, Frank Müller, zeigt Teile aus dem Archiv.
Josef Nürnberg

Müller erinnert daran, dass den Verantwortlichen des Landeskrankenhauses bei der Übernahme des Stiftes 2016 eine mögliche Verbindung zwischen der Klinik und dem Thema Kinderverschickung gar nicht bewusst war. Erst ein Fernsehbeitrag einige Jahre später ließ die Verantwortlichen aufhorchen. „Im Rahmen der Aufarbeitung verschweigen und beschönigen wir nichts“, verspricht Müller. Zumal Geschäftsführung und Direktorium überzeugt sind, dass nur dann eine moderne und glaubhafte Rehabilitation für Kinder und Jugendliche angeboten werden kann, wenn transparent und offen mit der Vergangenheit des Hauses umgegangen wird. Unterstützt wird das Landeskrankenhaus in diesem Zusammenhang ausdrücklich von der Stiftung Viktoriastift Bad Kreuznach, der vormaligen Trägerin der heutigen Klinik Viktoriastift. Wie ernst die Aufarbeitung gemeint ist, wird dadurch deutlich, dass die Klinik eine unabhängige Aufarbeitung beauftragt hat.

In Anbetracht dessen, was manches Kind erleben musste, erscheint die Werbung "Eine alte Stätte der Kinderpflege" ein wenig wie Hohn.
Josef Nürnberg

„Mit den beiden Professorinnen Nicole Hoffmann und Wiebke Waburg sowie Dr. Hannah Rosenberg vom Institut für Pädagogik der Universität Koblenz hat das Landeskrankenhaus drei Wissenschaftlerinnen gewinnen können, die mit sehr hohem Sachverstand und einer gehörigen Portion Leidenschaft in unserem Auftrag eine erste Vorstudie zur Historie der Klinik erstellt haben, so Müller. „Im Ergebnis der Studie müssen wir feststellen, dass nach dem Zweiten Weltkrieg Tausende Kinder ins damalige Viktoriastift verschickt wurden. Uns liegen aufgrund der Vorstudie nun Anhaltspunkte dafür vor, dass es zumindest in Einzelfällen dazu kam, dass Kinder drangsaliert, schikaniert und teilweise misshandelt wurden“, teilte Landeskrankenhaus-Geschäftsführer Alexander Wilhelm mit. Laut Markus Wakulat, Leiter Unternehmenskommunikation und Pressesprecher des Landeskrankenhauses, stimmen die Schilderungen der Betroffenen überein – unabhängig, in welchen Kinderheimen sie untergebracht waren und ganz unabhängig vom Träger der Einrichtung.

„Nicht jedes Kind erlebte die Hölle.“
Frank Müller

Dennoch möchte Müller nicht verallgemeinern. Nicht jedes Kind erlebte die Hölle. Wir können uns das heute einfach nicht vorstellen, dass Eltern ihre Kinder zur Verschickung in den Zug setzten. Schon die Reise alleine mit dem Zug hat manches Kind traumatisiert. Eine Frau, die als Kind im Viktoriastift war und heute in Frankreich lebt, berichtete, dass sie seit dieser Zeit nicht mehr Zug fahren kann. Die Bundesbahn hatte zur Verschickung eigens eine Broschüre herausgebracht. Schließlich verdiente sie durch die Beförderung der Kinder. Müller lehnt die Verschickung ab, versucht sie dennoch in den Kontext der Nachkriegszeit einzuordnen, um das Geschehene überhaupt zu verstehen. Insbesondere Kinder in den Städten litten oft noch Not. Wenn dann Ärzte – die damals tatsächlich noch Götter in Weiß waren – den Eltern dieser Kinder Kuren anboten, griffen sie gerne zu.

Bundeskongress tagt in Bad Kreuznach

Das Viktoriastift wird die Thematik der Kinderverschickung weiter aufarbeiten, Betroffene mittels des großen Archivs zur Verschickung Auskunft geben und begrüßt wie auch das Landeskrankenhaus, dass der Bundeskongress „Aufarbeitung Kinderverschickungen 2024“ der bundesweit agierenden Initiative Verschickungskinder e. V. am kommenden Wochenende in Bad Kreuznach tagt.

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