Zeitzeugen erinnern sich
400 Kilometer zu Fuß: Am Ende wurde das Naheland Heimat
Der heute 90-jährige Armin Baritz ist froh und dankbar für seine große Familie, die sein Leben in seiner neuen Heimat an der Nahe prägte.
Jens Fink

Dem Ende entgegen – Das Kriegsende im Kreis. So heißt unsere Serie zum 8. Mai 1945. Für Armin Baritz, Jahrgang 1935, bedeute der Krieg, dass er seine Heimat verlor und erst 1950 in Langenlonsheim, nach einer entbehrungsreichen Zeit, eine neue fand.

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Für Armin Baritz, Jahrgang 1935, war das Kriegsende eine Episode in seinem jungen Leben, das von einer jahrelangen Irrfahrt geprägt war.

Diese begann bereits 1942, als der aus Swinemünde an der Ostsee stammende Junge nach Altsorge im Warthegau umgesiedelt wurde. Der Grund waren die Luftangriffe der Alliierten auf das nahe gelegene Peenemünde, wo die V1- und V2-Raketen entwickelt wurden. Ältere Geschwister und der Vater der zehnköpfigen Familie befanden noch sich im Kriegseinsatz oder an der Front, als in den letzten Tagen des Krieges die Mutter und ihre vier Kinder von den Polen vertrieben wurden und sich in einem Flüchtlingstreck nach Berlin aufmachen mussten.

„Das waren rund 400 Kilometer zu Fuß.“
Armin Baritz, Jahrgang 1935, erlebte das Kriegsende als eine jahrelange Irrfahrt mit etlichen Umsiedelungen.

„Das waren rund 400 Kilometer zu Fuß“, verdeutlicht Baritz. Von Berlin ging es direkt weiter im offenen Güterzug ins heimatliche Swinemünde, wo Baritz die letzten Tage des Krieges erlebte. „Unsere alte Wohnung war zerbombt. Da haben wir erst mal im Keller gewohnt. Dort hat es durch die Decke geregnet und wir mussten unter dem Regenschirm schlafen“, erinnert sich Baritz. Daher zog die Familie in eine leer stehende, verlassene Wohnung im Ort.

Alle Kinder hatte wegen der hygienischen Unzulänglichkeiten die Krätze. „Um die weg zu bekommen, haben wir uns mit Urin gewaschen“, erzählt Baritz. Das Schlimmste jedoch sei der Hunger gewesen. „Wir haben um Essen gebettelt, meist bei den Schiffen im Hafen. Da haben uns die Besatzungen Lebensmittel zugeworfen. Einmal haben wir von einem Lastwagen herunter Weißkraut gestohlen.“

„Im Winter 1945 konnten wir in Hohenthurm bei Halle eine Wohnung beziehen. Die bestand nur aus einem einzigen Raum und war total vereist.“
Zeitzeuge Armin Baritz

Noch 1945 seien erneut Polen gekommen und hätten die Familie rabiat vor die Tür gesetzt. Nur mit dem Nötigsten ausgestattet, wurde die Familie auf der Ladefläche eines Lastwagens nach Stettin gebracht und von dort mit dem Zug in einem verplombten Viehwagen in ein Auffanglager nach Wolfen in Sachsen-Anhalt verfrachtet. „Im Winter 1945 konnten wir in Hohenthurm bei Halle eine Wohnung beziehen. Die bestand nur aus einem einzigen Raum und war total vereist.“ Im Laufe des nächsten Jahres musste die Familie jedoch in eine andere Wohnung umziehen. „Das war allerdings mehr ein Bretterverschlag“, berichtet Baritz. „Wir haben die nicht geernteten Kartoffeln direkt auf dem Feld gesucht und gegessen“.

Auch einen Hamster haben die Kinder ausgegrabenen, um an das vom Nager in seinem Bau gesammelte Korn heranzukommen. Den Hamster nahmen die Kinder mit nach Hause, wo er fortan als Haustier unter dem Bretterboden lebte. „Den nannten wir Mucki. Wenn wir ihn gerufen haben, ist er heraus gekommen“, erinnert sich Baritz an einen der wenigen Lichtblicke in einer von Hunger geprägten Zeit. „Alles was wir kriegen konnten, kam bei uns in die Pfanne, auch Spatzen oder ein junger Rabe“, berichtet Baritz von einem seltenen Festschmaus, den sich heutzutage niemand mehr vorstellen möchte.

Heimatlose Menschen wurden über das ganze Land verteilt

Von einem älteren Bruder geführt, überquerte die Familie 1947 die innerdeutsche Grenze und gelangte zunächst in ein weiteres Auffanglager in Lübeck-Pöppendorf. Dort jedoch konnte der Vater, der in einem Lager in Eckernförde lebte, seine Familie wieder in die Arme schließen. Ohne die ältere Schwester, die inzwischen in Flensburg als Krankenschwester arbeitete, ging es im Sommer 1950 mit dem Zug für drei Kinder und die Eltern von Eckernförde ins Naheland. „Das war damals so. Die heimatlosen Menschen wurden einfach über das ganze Land verteilt“, erläutert Baritz.

Mit nur einer Kiste an Habseligkeiten kam die Familie in Langenlonsheim an und wurde zunächst in einer kleinen Wohnung im Weingut Haas untergebracht. Noch Ende 1950 konnte die Familie schließlich eine Wohnung in einem Mehrfamilienhaus beziehen, womit die Irrfahrt ein Ende fand. „Zwei Mal vertrieben und zwei Mal umgesiedelt. Außerdem drei Auffanglager – das war das Schlimmste“, sagt Baritz, der als Kind sechs verschiedene Schulen besuchte. „Überall war ich der Fremde und nirgends daheim. Ich habe viel Elend erlebt“, resümiert Armin Baritz, der aus dieser Erfahrung heraus jedes Jahr bis zu 4000 Euro für gute Zwecke spendet.

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