Bis zum 12. Mai, dem kurzfristig anberaumten Fortsetzungstermin, wird nun vor allem die Klärung folgender Frage von großer Bedeutung sein: Ist es zeitlich überhaupt möglich, in exakt 30 Minuten vom Personalausgang der Kreissparkasse (KSK) in Oberstein zu Fuß zum Parkhaus ins Nahe-Center zu gehen, dort ins Auto zu steigen, nach Abentheuer zu fahren und dort in einem Haus schnell ein weitgehend vorbereitetes Formular zu unterschreiben?
Beamte der Kripo Idar-Oberstein werden genau dieses Szenario möglichst werktags gegen 17.30 Uhr nachstellen, um in Bad Kreuznach der siebten Strafkammer um Richter Carsten Poetsch bei der Urteilsfindung behilflich zu sein. Dort sitzt der frühere Abentheurer Ortschef Klaus Goldt auf der Anklagebank.
Der 68-Jährige war im Juni 2020 vom Amtsgericht Idar-Oberstein wegen Wahlfälschung zu einer Geldstrafe in Höhe von 6000 Euro verurteilt worden. Denn er habe in seiner Funktion als örtlicher Wahlleiter am 8. April 2019 die Bewerbung von Andrea Thiel – sie wurde zwei Monate später auch als neue Ortsbürgermeisterin gewählt – rechtswidrig zugelassen, obwohl die Abgabefrist um Punkt 18 Uhr schon verstrichen war. Gegen dieses erstinstanzliche Urteil hatten Goldt und sein Anwalt Welf Fiedler (Hoppstädten-Weiersbach) Berufung eingelegt, weshalb die Sache nun mehr als zwei Jahre nach diesem ominösen Montagabend vor dem Landgericht neu aufgerollt wird.
Klar wurde beim ersten Verhandlungstag: Die Erinnerung an exakte Uhrzeiten fiel den Akteuren, was Ankunfts- und Bleibezeiten in Goldts Büro in dessen Wohnhaus angeht, bei sich teils widersprechenden Aussagen schwer. Im Saal waren Uhrzeitangaben in vielen Varianten zu hören.
Was geschah in Klaus Goldts Büro?
Doch wie schon in erster Instanz blieb es bei der grundsätzlichen Ausgangssituation: Sowohl Goldt als auch Thiel beteuerten, dass die Unterschrift auf dem Bewerbungsformular noch vor 18 Uhr erfolgte. Dem widersprach Thorsten Flick. Er war ebenfalls ein Kandidat bei der Abentheurer OB-Wahl, hatte seine Bewerbung aber mit der Bitte um Stillschweigen bereits Wochen vorher bei der Birkenfelder VG-Verwaltung abgegeben.
Am besagten 8. April 2019 habe er sich dann kurz nach 18 Uhr zu Goldt begeben, um diesen über seine Kandidatur zu informieren. Zu seiner Überraschung habe er dort Andrea Thiel angetroffen. Diese habe erst in seinem Beisein das Bewerbungsformular ausgefüllt und unterschrieben, während ihn Goldt in einen Smalltalk verwickelte. „Mein Eindruck war, dass hier eine total schräge Sache am Laufen war“, sagte Flick nun vor Gericht.
Er hatte später ebenso wie Markus Berang Strafanzeige gegen Goldt erstattet. Berang war ein weiterer Kandidat bei der OB-Wahl, der ebenfalls erst kurz vor Ablauf der Abgabefrist seine Bewerbung bei Goldt abgab. Berang gab an, dass er um 17.55 Uhr das Haus des Angeklagten verlassen habe und zu diesem Zeitpunkt von Thiel noch nichts zu sehen war. Der Ex-Ortschef sagte hingegen aus, dass Berang nur bis etwa 17.45 Uhr bei ihm war und Thiel „Maximum fünf Minuten“ später bei ihm erschienen sei. Um 18 Uhr habe Thiel auch schon ihre Unterschrift geleistet, und als Flick kurz darauf erschien, habe er sich mit dieser nur noch über persönliche Dinge unterhalten.
Richter Poetsch hielt Goldt vor, dass es bei seinen früheren Angaben vor allem mit Blick auf die Bewerbung Berangs „gravierende Unterschiede“ gegeben habe. Grund dafür: Als Goldt am 9. April 2019 die Bewerbungsformulare bei der VG-Verwaltung abgegeben hatte, fehlten darauf Angaben zur Uhrzeit ihres Eingangs. Weil Flick im weiteren Verlauf des 9. Aprils seine Beobachtungen auch schon bei einem Telefonat VG-Chef Bernhard Alscher – auch er sagte am Donnerstag als Zeuge aus – mitgeteilt hatte und der eine Prüfung versprach, meldete sich am 10. April das VG-Rathaus telefonisch bei Goldt. Dieser hatte daraufhin angegeben, dass Berangs Unterschrift um 17 Uhr und die von Thiel um 17.50 Uhr vorgelegen habe.
Nachweislich hatte Berang aber erst nach 17 Uhr seine Arbeitsstelle bei der Birkenfelder Elisabeth-Stiftung verlassen. Goldt räumte nun vor Gericht ein, dass seine Angaben im Fall Berang „zu früh“ waren. Er betonte aber zugleich: „Für mich war einzig und allein 18 Uhr wichtig.“ Und zu diesem Zeitpunkt hätten sowohl Berang als kurz darauf auch Thiel alle Formalitäten bereits erledigt.
Das betonte am Donnerstag auch die später siegreiche OB-Kandidatin erneut im Zeugenstand ausdrücklich. Gegen sie läuft nach Auskunft von Oberstaatsanwalt Kai Fuhrmann – das war auch für das Landgericht neu – wegen ihrer früher getätigten Angaben inzwischen ein Ermittlungsverfahren wegen uneidlicher Falschaussage. Obwohl sie deshalb, um sich eventuell nicht selbst zu belasten, nicht dazu gezwungen gewesen wäre, ließ sich Thiel am Donnerstag in der Sache ein.
Unterschrift vor dem Glockenläuten?
Die genauen Uhrzeiten an diesem frühen Abend könne sie zwar nur schätzen, so Thiel, aber in einem Punkt sei sie sich sicher: Als um 18 Uhr die nahe gelegene Dorfglocke geläutet habe, habe sie das Bewerbungsformular bereits unterschrieben. Wie viel früher dieser Akt denn vollzogen wurde, wollte Richter Poetsch daraufhin wissen, worauf Thiel antwortete: „Vielleicht eine Minute früher.“
Auch sie hatte sich erst kurzfristig zur Kandidatur entschieden, ein dazu auffordernder Anruf ihres Manns Wolfgang auf ihrer Arbeitsstelle bei der KSK kurz nach 17 Uhr habe ihr den „entscheidenden Kick“ für die Bewerbung gegeben. Dieser hatte Goldt dann auch den Besuch seiner Frau angekündigt und darum gebeten, alle Formulare vorzubereiten.
Nun gibt es in der ganzen Angelegenheit mit Ungefähr-Uhrzeitenangaben in vielerlei Facetten immerhin ein objektives Beweismittel, das einen sicheren Anhaltspunkt bedeutet: Thiel hatte exakt um 17.30 Uhr am Zeiterfassungsautomat der KSK in Oberstein ausgecheckt. Das war auch schon der ersten Instanz bekannt gewesen. Deshalb hatte seinerzeit Michael Grundhöfer, Ermittlungsführer der Polizei, im Vorfeld die Strecke Oberstein–Abentheuer abgefahren. Ergebnis: In 22 Minuten sei das Ziel bei normaler Fahrt zu erreichen. Erst in der Verhandlung am Donnerstag kam aber erstmals die Frage auf, von wo Thiel gestartet war. Dies sei vom Parkhaus im Nahe-Center aus geschehen, sagte die Zeugin aus.
Sie räumte auf Nachfrage des Gerichts zudem ein, dass sie auf der B 41 „draufgedrückt“ habe, weil sie ja in Eile war. Diese Aussage sorgte bei Poetsch für Verwunderung. Er frage sich, warum Thiel bei den Vernehmungen durch die Polizei und in erster Instanz nie etwas davon gesagt habe, „dass Sie schneller als normal gefahren sind. Sie wussten doch, dass es in dieser Sache auf jede Minute ankommt?“ Die Frage nach dem Fahrstil sei bisher nie aufgekommen, erklärte daraufhin der Anwalt, der Thiel als Rechtsbeistand begleitete.
Um aufzuklären, ob der zeitliche Rahmen überhaupt einzuhalten war, entschloss sich Richter Poetsch dazu, dies erst einmal vor der Fortsetzung der Verhandlung prüfen zu lassen. Das Ergebnis werde dann ebenso wie die bereits erfolgten Zeugenaussagen in die Gesamtwürdigung des Geschehens einfließen. Poetsch betonte aber abschließend, dass es am Verhandlungstag 12. Mai nach Stand der Dinge auch tatsächlich ein Urteil geben wird.