Ein Stück Geschichte
Vor 80 Jahren: Von der Asbacher Hütte in den Tod
Heute erinnern auf dem Friedhof der Asbacher Hütte ein Holzkreuz und ein Gedenkstein an die 1943 und 1944 deportierten Männer und Frauen aus den Einrichtungen der Kreuznacher Diakonie.
Erik Zimmermann

Ein trauriges und erschütterndes Stück Geschichte: Heute erinnern auf dem Friedhof der Asbacher Hütte ein großes Holzkreuz und ein Gedenkstein an die Opfer der beiden Transporte.

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Die Asbacher Hütte, eine Heil- und Pflegeanstalt der Kreuznacher Diakonie, hatte unter der Mangelversorgung während des Ersten Weltkriegs und in der Nachkriegszeit schwer gelitten (die NZ berichtete). Nach einem Rückgang der Sterbefälle während der Weimarer Republik stieg ihre Zahl mit der Weltwirtschaftskrise wieder an. 1932 waren unter den 16 Verstorbenen der evangelischen Kirchengemeinde Hottenbach neun „Pfleglinge“ der Hütte. Die staatlichen Pflegesätze befanden sich auf einem niedrigen Niveau. Damals wohnten 213 Bewohnerinnen, 20 Diakonissen und elf Hilfskräfte auf der Asbacher Hütte.

Nach Hitlers Machtübernahme 1933 verschlechterte sich die Lage für geistig behinderte und psychisch beeinträchtigte Menschen weiter. Die Gelder für die Anstalten beschränkten sich auf das Allernötigste. Johannes Hanke, seit 1932 neuer Leiter der Kreuznacher Diakonie, verurteilte diese Politik der Zurücksetzung. Als NSDAP-Mitglied bot er dem Regime die Zusammenarbeit an, fühlte sich aber gleichzeitig seinen Schutzbefohlenen verpflichtet. Laut der Historikerin Ulrike Winkler erwies sich seine Haltung als „nicht zu bewältigender Spagat mit katastrophalen Folgen“.

Systematische Tötung

1933 wurde das Gesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ verabschiedet. Ein im Juli 1932 vorgelegter Gesetzesentwurf zur freiwilligen Unfruchtbarmachung geistig beeinträchtigter Menschen war in der Bevölkerung auf breite Zustimmung gestoßen. Doch das neue Gesetz gab dem NS-Staat Zwangsmittel in die Hand. Bis August 1936 wurden in der Kreuznacher Diakonie 234 Zwangssterilisationen durchgeführt, davon 56 an Anstaltsbewohnerinnen. Hanke bejahte die Mitarbeit der Diakonie im Interesse der „Gesunderhaltung unseres Volkes“.

Der nächste Schritt des NS-Regimes war die systematische Tötung behinderter Menschen. Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs lief die „Aktion T4“ an – benannt nach der Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4. Im Zuge dieser Aktion wurden rund 70.000 Patientinnen und Patienten aus Heil- und Pflegeanstalten in Gaskammern ermordet. Für die Registrierung von behinderten Menschen gab es Meldebögen, die unter anderem ihre Gemeinschafts- und Arbeitsfähigkeit erfassten. Hanke verweigerte das Ausfüllen dieser Meldebögen, weil er deren Zweck durchschaute. Stattdessen ließ er eigene Karteikarten, gelbe und grüne, mit Befundvermerken ausfüllen.

Öffentliche Kritik des Bischofs

Die eigenen Mitarbeiter kritisierten Hankes „Vorselektion“. Denn letztlich arbeitete man doch dem NS-Mordplan zu. Als im Juli 1941 eine Ärztekommission der „T4-Zentrale“ unangemeldet in den Anstalten der Kreuznacher Diakonie erschien, konnten die Mediziner auf die bereits gesammelten Informationen zurückgreifen. Allein auf der Asbacher Hütte wurden 208 Pfleglinge erfasst. Dank der öffentlichen Kritik des Münsteraner Bischofs Clemens August Graf von Galen wurde die Gasmord-Aktion am 24. August 1941 gestoppt. Hitler wollte zu Beginn des Feldzugs gegen die Sowjetunion keine Unruhe an der Heimatfront.

Der Krankenmord ging aber weiter. Die jetzt einsetzende „dezentrale Euthanasie“ war nicht mehr reichsweit organsiert, sondern ging von den Gauleitungen aus. Anstelle von Gas wurde mit Medikamenten, Nahrungsentzug und durch schwere Vernachlässigung getötet.

Vergebliche Bemühungen

Im Frühjahr 1943 kam es zu einer ersten groß angelegten Mordaktion in der Rheinprovinz, die auch die Kreuznacher Diakonie betraf. Um Platz für die Bewohner der luftkriegsgefährdeten Anstalt Hephata bei Mönchengladbach zu schaffen, musste die Einrichtung Niederreidenbacher Hof geräumt werden. Im Mai 1943 wurden von dort 142 Männer, Frauen und Kinder deportiert. Unter ihnen waren auch 34 Pfleglinge der Asbacher Hütte. Sie kamen teils in die berüchtigte Jugendfürsorgeanstalt „Am Spiegelgrund“ in Wien, teils in die Anstalt Schieratz bei Warta in Polen. Die Diakonissen, die sie dorthin begleiteten, berichteten bei ihrer Rückkehr Erschreckendes.

Ein zweiter Todestransport ging im Mai 1944, vor 80 Jahren, von der Asbacher Hütte in die Landeskrankenanstalt Meseritz-Obrawalde. Die Einrichtung gehörte zum Provinzialverbund Pommern. Der Transport bestand aus 98 Mädchen und Frauen. Sie wohnten im Haus Grüne Aue, wo jetzt Kinder aus der Anstalt Neu-Düsselthal untergebracht werden sollten. Hanke wie auch die Hausmutter Addi Addicks bemühten sich vergeblich, die Bewohnerinnen durch Entlassung oder Unterbringung in anderen Einrichtungen vor der Deportation zu bewahren.

Grausame Wahrheit

Ein Brief Hankes an die Diakonissen vom 23. Mai 1944 berichtet über die letzten Tage und Stunden vor der Deportation. Am Sonntag hatte Hanke noch einen Gottesdienst auf der Hütte gehalten. Zwei Tage später kamen die Busse der Gemeinnützugen Krankentransport-Gesellschaft und brachten die Bewohnerinnen zum Bahnhof nach Oberstein. Kurz vor der Abfahrt entstand ein letztes Foto der Gruppe.

Mehrere Diakonissen begleiteten ihre Schützlinge auf der Fahrt nach Meseritz. Zurück auf der Asbacher Hütte berichteten sie von der „freundlichen Aufnahme“. Dann folgte das Entsetzen: Nach 14 Tagen wusste man bereits von zehn Todesfällen. Hanke ahnte, dass die Wahrheit noch grausamer war. An den rheinischen Generalsuperintendenten Ernst Stoltenhoff schrieb er: „Du kannst Dir denken, welch eine Trauer nun über der Hütte, vor allem über den Schwestern liegt.“ Einer der wenigen überlebenden Frauen gelang nach Kriegsende die Rückkehr zur Asbacher Hütte. Sie war als Haushaltshilfe bei einem Ärzteehepaar angestellt gewesen.

Über Schicksal wenig bekannt

Den Diakonissen ließen die Ereignisse bis ins Alter keine Ruhe. 1984 wandten sie sich an den damaligen Leiter der Kreuznacher Diakonie, Karl-Adolf Bauer. Gemeinsam setzte man sich mit den Ereignissen von damals auseinander. Das daraus hervorgehende Schuldbekenntnis war bahnbrechend. Darin hieß es: „Wir haben an der Zwangssterilisierung mitgewirkt und der sogenannten ‚Verlegung‘ von geistig behinderten Heimbewohnerinnen nicht genügend Widerstand entgegengesetzt. Dadurch sind wir mitschuldig geworden an der Ermordung von nahezu 240 Behinderten aus unseren Heimen.“ Von 1937 bis 1944 wurden insgesamt 312 Menschen mit Behinderungen, die in Anstalten der Kreuznacher Diakonie lebten, „verlegt“. Fast alle starben.

Weniger bekannt ist über das Schicksal der Bewohnerinnen, die auf der Asbacher Hütte verblieben. Der Hottenbacher Pfarrer Gustav Dreckmann, Parteifunktionär und radikaler Thüringer Christ, zeichnete von 1938 bis 1942 keine Sterbefälle von Pfleglingen auf. 1943, nach seiner Versetzung in den Wartestand, begannen die Eintragungen wieder. Sie belegen, dass es wie schon im Ersten Weltkrieg eine Übersterblichkeit auf der Asbacher Hütte gab. Von 1943 bis 1948 sind 90 Todesfälle belegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging auch in anderen deutschen Pflegeanstalten das Hungersterben noch eine Zeit lang weiter. Der Konstanzer Psychiater Heinz Faulstich stellte die kritische Frage, ob es sich um eine „Euthanasie“ durch die Verhältnisse handelte.

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