Berschweiler – Dieses Motto könnte über der Geschichte von Henry Lalanne stehen, den das Schicksal aus seinem Dorf am Fuße der französischen Pyrenäen nach Berschweiler bei Kirn verschlug. Er wurde am 10. April 1914 in dem Dorf Guinarthe-Parenties, fast genau in der Mitte zwischen den südwestfranzösischen Städten Pau und Bayonne, geboren. Als Kriegsteilnehmer geriet er 1940 nach dem Überfall Hitlers auf Frankreich in deutsche Gefangenschaft. Der Familie Maurer in Berschweiler bei Kirn wurde er als Zwangsarbeiter zugeteilt. Eine zusätzliche Arbeitskraft für ihren landwirtschaftlichen Betrieb war sehr willkommen, denn der Familienvater Willi Maurer war gestorben, sodass die Mutter mit ihrer Schwägerin und den beiden fünf- und sechjährigen Söhnen den Hof bewirtschaften musste.
Henry, wie ihn alle nannten, lebte wie ein Familienmitglied im Hause Maurer, er genoss das Vertrauen der Familie. Allerdings schlief er nicht im Haus, denn alle Kriegsgefangenen des Ortes verbrachten die Nacht im Gemeindehaus. Meistens begleitete ihn Artur Maurer, der älteste Sohn der Familie, dorthin, denn es war vorgeschrieben, dass ein Familienmitglied den jeweiligen Gefangenen ordnungsgemäß „abliefern“ musste. Morgens allerdings gingen die jungen Männer ohne Begleitung wieder zu „ihren“ Familien. Die Verbindung zu seiner eigenen Familie im fernen Frankreich wurde durch Briefe und Päckchen aufrecht erhalten. Süßigkeiten, die er von zu Hause bekam, teilte er mit den Jungen.
Da Henry von einem Bauernhof stammte, waren ihm die Arbeiten auf dem Hof und dem Feld vertraut. Er fütterte die Tiere im Stall, er pflügte die Äcker, er war derjenige, der bei der Ernte die schwersten Arbeiten verrichtete, er arbeitete im Wald und sorgte für das Brennholz. Mit dem Pferdefuhrwerk fuhr er sogar alleine zur nächsten Bahnstation nach Fischbach, um Düngemittel abzuholen. Als gegen Ende des Krieges das Pferde der Familie vom deutschen Militär requiriert wurden, brachte er es zu der erwähnten Bahnstation. Dem Pferd schnitt er den Schweif ab und brachte ihn – sozusagen als Erinnerungsstück – mit nach Hause.
In den letzten Kriegstagen im März 1945 endete auch für Henry die lange Zeit der Gefangenschaft; er kehrte in seine Heimat zurück. Seitdem hatte man kein Lebenszeichen von ihm erhalten.
Der inzwischen 74-jährige Artur Maurer aus Berschweiler aber hat Henry Lalanne nie vergessen. Er dachte oft an den jungen Mann, der seiner Mutter und seiner Tante eine große Stütze und für die Jungen sicher eine Art Vaterersatz geworden war. Im Innern hatte er immer den Wunsch, Henry wiederzufinden.
Die Kontakte einer anderen Familie aus Berschweiler zu „ihrem“ ehemaligen französischen Kriegsgefangenen nahm Artur Maurer im Jahre 2007 zum Anlass, die Suche nach Henry Lalanne aufzunehmen. Er war sich darüber bewusst, dass Henry wahrscheinlich nicht mehr lebte. Aber er wollte dennoch versuchen, seine Spur oder eventuelle Nachkommen ausfindig zu machen. Das einzige Dokument, das Artur Maurer aus Henrys Zeit in Berschweiler besitzt, ist ein Foto, das Henry 1944/45 mit Artur und seinem Bruder zeigt, die Baskenmütze auf dem Kopf, die Zigarette im Mund.
Die Korrespondenz mit deutschen und französischen Stellen (Rotes Kreuz, Internationaler Suchdienst, Französisches Außen- und Verteidigungsministerium mit ihren jeweiligen Archiven, Privatpersonen und Bürgermeister in Südwestfrankreich) zog sich über mehr als drei Jahre hin und war zunächst wenig Erfolg versprechend, bis das französische Verteidigungsministerium (Historischer Dienst) unter dem Datum vom 25.03.2010 den entscheidenden Hinweis gab: Ein Kriegsgefangener namens Henry Lalanne hatte am 12.04.1945 in Paris-Orsay erklärt, aus dem Lager XII D Trier/Petriberg entlassen worden zu sein und sich nach Guinarthe-Parenties begeben zu wollen. Der letzte Teil der Nachforschungen führte schließlich im Mai 2010 zu Henrys Tochter, die in dem Städtchen Salies-de-Béarn lebt, nicht weit entfernt vom Geburtsort ihres Vaters. Von ihr erfuhr Artur Maurer, dass Henry 1952 geheiratet hatte. Aus der Ehe waren drei Kinder hervorgegangen und am 13.10.1981 war Henry gestorben; seine Frau ist noch am Leben. Sehr schnell äußerte die Tochter den Wunsch, die Familie Maurer kennen zu lernen und am 9. August 2010 kam schließlich Eulalie-Jacqueline Lagourgue, begleitet von ihrem Mann Albert, nach Berschweiler und stand mit Tränen in den Augen vor dem Haus der Familie Maurer, das Henry Lalanne vor 65 Jahren nach mehrjähriger Kriegsgefangenschaft verlassen hatte.
Für sie hatte sich ein Fenster im Leben ihres Vaters geöffnet, das bisher stets verschlossen gewesen war. Henry hatte nie über seine Zeit der Gefangenschaft gesprochen, aber trotzdem den Wunsch geäußert, nach Berschweiler zurückkehren zu wollen. Nach seinem Tode hatte man in seiner Brieftasche das Foto gefunden, das ihn, die Baskenmütze auf dem Kopf und die Zigarette im Mund, mit Artur und seinem Bruder zeigt. Er hatte es ein Leben lang bei sich getragen. Nun war die Tochter an Stelle ihres Vaters gekommen. Für Artur Maurer war ein Herzenswunsch in Erfüllung gegangen.