Serie „Nach Kriegsende“
Text in Lokalzeitung beflügelte Verschwörungstheorien
Mit Beginn des Kalten Kriegs übernahm die US-Armee nach 1950 wieder die Algenrodter Straßburgkaserne und passte sie ihren Bedürfnissen an. Auf dieser Aufnahme sind im Mittelgrund und vorne rechts noch Bauten erkennbar, in denen von 1945 bis 1946 die von den Alliierten internierten Häftlinge untergebracht waren.
Archiv Axel Redmer

Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann auch in der Nahe-Region die Aufarbeitung der Nazi-Zeit und die Suche nach Schuldigen. Dafür wurden in Oberstein und Algenrodt Internierungslager eingerichtet. Das brachte viele Probleme mit sich.

Bei allen sonstigen Unterschieden waren sich die vier Alliierten 1945 darin einig, in ihren besetzten Gebieten unverzüglich mit summarischen Verhaftungen jener Personengruppen zu beginnen, die als Sicherheitsgefahr für die eigenen Truppen empfunden wurden. Daneben sollten die, die im Dritten Reich erhebliche Verantwortung getragen hatten oder im Verdacht standen, Kriegs- oder Menschheitsverbrechen begangen zu haben, interniert werden.

Dabei machten sich die Alliierten von dem Aufwand, den das verursachte, keine realistischen Vorstellungen. Weder verfügten sie über genügend Personal und angemessene Liegenschaften, um das angestrebte Lagersystem kurzfristig installieren zu können, noch standen in ausreichender Zahl Ermittler und Richter bereit, um rechtsstaatlich unbedenkliche Verfahren gegen die verdächtigten Nationalsozialisten sicherzustellen. Die Folge waren ausufernde Verhaftungen, mangelhafte Unterbringung und oberflächliche Untersuchungen, die häufig mit milden Strafen endeten, die in keinem Verhältnis zur vorangegangenen Haftzeit standen.

Brauereichef führte akribisch Liste

Parallel zum Aufbau ihrer Militärregierung begannen die Amerikaner im April 1945 an der oberen Nahe mit umfangreichen Verhaftungen, den „Automatic Arrests“. Hauptkriterium für die Internierung in dieser Phase waren nicht individuelle Verfehlungen, sondern organisatorische Positionen innerhalb der NS-Organisationen. Gesucht wurden NSDAP-Funktionäre bis hinunter zum Blockwart und Unterführern der SS, aber auch alle Gestapo- und SD-Angehörigen sowie Wehrwirtschaftsführer und hohe Beamte. Diese mittleren und kleineren Funktionäre machten in den Lagern 80 bis 90 Prozent der Häftlinge aus.

Dem Bitburger Brauereichef Dr. Theo Simon, der in Algenrodt der Häftlingsselbstverwaltung angehörte, verdanken wir eine detaillierte Aufschlüsselung der Berufe und Funktionen, die die Internierten vor ihrer Festnahme ausgeübt hatten. Daraus ergibt sich, dass sich unter 3865 Häftlingen 255 SS-Leute, 220 Gestapo-Beamte, 145 Ortsbürgermeister, 72 Amtsbürgermeister, 70 NSDAP-Parteibeamte, 41 Landräte, 35 Behördenleiter und höhere Beamte, 21 Amtsgerichtsräte, 15 Landgerichtsräte, 14 Sparkassendirektoren, sechs Kreisleiter der NSDAP, zwei Oberlandgerichtsräte und ein Generalstaatsanwalt befanden. Angesichts dieser Sachlage ist es abwegig, wenn Betroffene nach ihrer Freilassung verbreiteten, sie seien fast alle unschuldig und überwiegend Opfer von Denunziationen gewesen.

Ab dem Sommer 1945 ersetzte das französische Militär die schematische amerikanische Säuberungspolitik, die vom Gedanken einer deutschen Kollektivschuld geprägt war, und rückte von der geltenden Internierungspraxis ab, was in den darauffolgenden Monaten die Entlassung zahlreicher Gefangener zur Folge hatte. Seit Herbst 1945 galt dann offiziell ein individuelles, zweistufiges Überprüfungsverfahren. Wer aufgrund seiner Parteiämter oder Verwaltungsfunktionen politisch schwer belastet war, musste weiterhin mit seiner Entlassung aus dem öffentlichen Dienst rechnen und blieb in Haft.

Hohlkaserne wurde als Internierungslager schnell zu klein

Anfangs nahmen die Amerikaner Verdächtige zum Teil in ihrer Wohnung fest. In nicht geringer Zahl wurden überdies Menschen willkürlich auf der Straße verhaftet und dann entweder von der nachrichtendienstlichen CIC-Abteilung im Schützenhof in Idar vernommen und überprüft oder im Freien an provisorischen Sammelstellen einer oberflächlichen Kontrolle unterzogen. Die ersten Verdächtigen landeten in der Hohlkaserne, wo die dortigen Holzbaracken allerdings schon bald nicht mehr ausreichten, sodass nach zwei Wochen die Verlegung in ein Lager auf dem Trierer Petriberg erfolgte.

Auch dies blieb nur eine Zwischenlösung. Vom Mai 1945 an diente die Algenrodter Straßburgkaserne neben der militärischen Nutzung für zehn Monate als Internierungslager der von den Alliierten festgesetzten Personen, die zu etwas mehr als einem Zehntel von der oberen Nahe stammten. Als stark überbelegte Unterkünfte dienten eine große Reithalle, Pferdeställe und Geräteschuppen. Holzgestelle mit Strohsäcken und Decken bildeten die Schlafstellen. Die Häftlinge, knapp fünf Prozent davon weiblich, trugen die Zivilkleidung, die sie bei ihrer Verhaftung anhatten, und keine besondere Lagermontur. Nennenswertes Privateigentum besaßen sie nicht. Uhren waren meist schon bei der Ankunft von den Wachsoldaten vereinnahmt worden.

Für diejenigen, denen Straftaten – inner- oder außerhalb des Lagers – vorgeworfen wurden, gab es einen Sonderbau. In ihm fanden sich Häftlinge wieder, die unter anderem Zwangs- und Fremdarbeiter misshandelt hatten, oder Zivilisten, die gegen abgeschossene Flugzeugpiloten gewalttätig geworden waren. Ein „Dunkelkammer“ genannter Keller blieb vermeintlich „schweren Kriegsverbrechern“ vorbehalten. Zum Lager gehörte ein Krankenrevier mit zehn Ärzten, die leichtere Fälle behandelten. Wer unter schwereren Gesundheitsbeeinträchtigungen litt, kam in das in der Peterstraße gelegene Krankenhaus der Stadt Idar-Oberstein.

Versorgung wurde schnell zum Problem

In einer Zeit, in der die Franzosen Probleme hatten, ihre Militärangehörigen ausreichend zu ernähren und deutsche Zivilisten unter Mangelversorgung litten, konnte es nicht ausbleiben, dass die fünfminütigen Mahlzeiten für die Gefangenen unzulänglich waren und zur Unterernährung führten. Während einer kurzen Phase zu Beginn der Internierungen waren Nahrungszuwendungen von außen und Gefangenenbesuche verboten. Danach brachten Angehörige – fast alle Häftlinge stammten aus der französisch besetzten Zone – bei ihren Häftlingsbesuchen Lebensmittel mit. Ein Teil der heißbegehrten Nahrung wurde von Wachmannschaften für den Eigenbedarf abgegriffen oder im Auftrag der Lagerleitung an Häftlinge weitergereicht, die außerhalb des Lagers niemanden hatten, der sie versorgte.

Manche Häftlinge wurden zu Arbeiten auf dem Lagergelände herangezogen, die Mehrzahl hatte aber nichts zu tun und langweilte sich, was sicherlich das ohnehin schon beträchtliche Konfliktpotenzial im Lager weiter anheizte. Die Selbstverwaltung, die die Franzosen bemerkenswerterweise den Häftlingen erlaubten, änderte nichts daran, dass in allen Fragen von Sicherheit und Ordnung die französischen Wachmannschaften das Sagen hatten.

Unter erschwerten Haftbedingungen litten die Internierten im Winterhalbjahr, zumal die ungeheizten Aufenthalts- und Schlafräume keine Fenster hatten, Strohsäcke schlecht gefüllt oder leer waren und wärmende Decken in ausreichender Zahl fehlten, wie der Kontrollbericht des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz vom 4. Dezember 1945 festhielt. Angesichts der allgemeinen Unterernährung befürchtete die IKRK-Delegation „eine Katastrophe bei Fortdauer dieser Lagerzustände“. Daraufhin verlegten die Franzosen die Häftlinge am 4. März 1946 nach Diez an der Lahn, wo erträglichere räumliche Verhältnisse herrschten.

17 Personen starben im Internierungslager Algenrodt

Über all dies war aus der Lokalpresse kaum etwas zu erfahren. Das änderte sich im Januar 1955, als der ehemalige NSDAP-Kreispropagandaleiter Werner Bohrer in den „Idar-Obersteiner Nachrichten“ die „Dokumentarische Sonderausgabe ‚10 Jahre danach‘“ zusammenstellte, die unter dem reißerischen Titel „Über 40 Tote im Konzentrationslager Algenrodt“ einen Artikel enthielt, in dem ohne jeden Beleg behauptet wurde, in der Straßburgkaserne seien Häftlinge „mit Eisenstangen und Holzknüppeln zu Tode geprügelt“ worden. Nach der Vorführung eines Films über das KZ Dachau hätten die Wachmannschaften „völlig enthemmt“ eine „Blutnacht“ inszeniert, in deren Verlauf „50 Mann in den ‚Dunkelkammern‘ zusammengeschlagen“ worden seien, „daß ihre Schreie kilometerweit zu hören waren“. Schüsse auf Häftlinge seien „an der Tagesordnung“ gewesen.

Mit Bohrers Tendenzartikel war der Ton gesetzt, der fortan als „Tatsachen“-Beschreibung galt. Im Heimatkalender und anderen Publikationen übernahmen Regionalhistoriker arglos die falschen Kernaussagen. Edgar Mais tat dies 1984 zunächst auch, ließ dann aber einen Zeitzeugen zu Wort kommen, der unmissverständlich klarstellte: „Ich kann nicht bestätigen, daß es 40 Tote, wie die Überschrift angibt, gegeben hat.“

Tatsächlich starben ausweislich der Sterbebücher im Stadtarchiv Idar-Oberstein zwischen dem 15. August 1945 und dem 30. Januar 1946 im Internierungslager Algenrodt 17 Personen, aber nicht als Folge von Gewalt, sondern an verschiedenen Tumoren, Diphtherie, Leberzirrhose, Lungen- und Darmentzündung, Thrombose, Magengeschwürblutung und anderen schweren Krankheiten. In fast allen Fällen erfolgte die jeweilige Todesfeststellung und -anzeige durch den Leiter des Idar-Obersteiner Krankenhauses, in dem die Patienten vor ihrem Tod behandelt worden waren, sodass die Franzosen keine Möglichkeit hatten, auf die Dokumentation der Sterbefälle Einfluss zu nehmen.

Bohrers Text wird noch heute verbreitet

Bohrers Text beflügelt Verschwörungstheorien und wird noch heute im Internet von Rechtsextremisten und Geschichtsrevisionisten verbreitet. Tatsächlich lassen sich Aussagen über die Zustände in den französischen Internierungslagern nur begrenzt treffen, weil die entsprechenden Akten im Militärarchiv Colmar einer zeitlich unbegrenzten Sperrfrist unterliegen und die wenigen Zeitzeugen, die nach 1980 befragt wurden, anonym bleiben wollten. Eugen Kogon, einer der intellektuellen Väter der Bundesrepublik Deutschland, der von den Nationalsozialisten wegen seiner christlichen Haltung mehrere Jahre im KZ Buchenwald gefangen gehalten worden war, verdeutlichte 1947 in den „Frankfurter Heften“: Im Gegensatz zu den KZ der NS-Zeit könne man die Lager der Alliierten „besuchen, man kann darüber schreiben, Forderungen erheben, bei den Besatzungsbehörden intervenieren, anwaltliche Hilfe erhalten,  [...] es gibt Gesetze, auf die sich die Beschuldigten berufen dürfen, Besuche, Brief- und Paketversand“. 

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