Sogar Präsident Joe Biden ließ es sich nicht nehmen, den noch lebenden Ritchie Boys sowie den Angehörigen der verstorbenen Soldaten des Counterintelligence Corps (CIC), so der offizielle Name der Einheit, anlässlich dieser Ehrung zu gratulieren. Er betonte: „Viele der Ritchie Boys waren jüdische Flüchtlinge, die der Verfolgung in Nazi-Deutschland entkommen sind und zum Dienst in den US-Streitkräften eingezogen wurden, um Amerika und seinen Alliierten dabei zu helfen, den Krieg zu gewinnen.“
Für General George C. Marshall, dessen nach ihm benannter europäischer Entwicklungsplan entscheidend den wirtschaftlichen Wiederaufstieg Deutschlands während der Nachkriegsjahre begünstigte, war Feindaufklärung ein wichtiges Anliegen gewesen. Deswegen veranlasste er 1941 als Stabschef der US-Army den Aufbau eines entsprechenden Truppenteils. Ein Jahr später war es soweit: An der amerikanischen Ostküste trafen im Camp Albert C. Ritchie unweit der Hauptstadt Washington im Bundesstaat Maryland die ersten Soldaten ein, die bis zur Landung alliierter Truppen in der Normandie lernten, wie deutsche Gefangene auf der Basis kreativer Verhörtechniken dazu gebracht werden konnten, Standorte, Ausrüstung und Personalstärke ihrer Einheiten preiszugeben.
Ungewöhnliche Vernehmungsmethoden
Intellektuelle und Künstler um die Schriftsteller Klaus Mann, Stefan Heym, Hans Habe und J. D. Salinger sowie den Kabarettisten Georg Kreisler und den später so erfolgreichen Fernsehfilmer Georg Stefan Troller entwickelten ungewöhnliche Vernehmungsmethoden, die die Kriegshandlungen verkürzten und so wahrscheinlich das Leben Tausender Soldaten retteten.
Mehr als 10 Prozent der etwa 20.000 sogenannten Ritchie Boys waren jüdische Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich. Sie hatten dem Machtbereich der Nazis dank bürgerschaftlicher Hilfe aus den Vereinigten Staaten entkommen können und waren bereit, sich dafür gegenüber ihrem Aufnahmeland erkenntlich zu zeigen und die NS-Diktatur unter Einsatz ihres eigenen Lebens zu bekämpfen. Da ihnen im Fall der Kriegsgefangenschaft der Tod oder die sofortige Deportation in eines der östlichen Vernichtungslager drohte, lehnten sie es ab, sich in ihren dienstlichen Unterlagen als „Jewish“ (Jude) oder „Hebrew“ (Hebräer) kennzeichnen zu lassen.
CIC-Angehörige agierten unmittelbar hinter der Front, um Gefangene zeit- und ortsnah ausforschen zu können. Wie verblüffend einfach und zugleich höchst wirkungsvoll dies bisweilen gelang, zeigt eine Episode, die der 100-jährige Guy Stern vor wenigen Monaten in seinen Erinnerungen (Titel des Buchs: „Wir sind nur noch wenige“) schilderte: Die nach Belgien vorstoßenden US-Truppen benötigten dringend Erkenntnisse darüber, ob die deutsche Wehrmacht in der umkämpften Zone Gas einsetzte. Kurzerhand ließ Stern die Gefangenen antreten und fragte, wer eine Gasmaske bei sich habe. Nachdem kein Arm hochging, stand fest, dass die Deutschen den gefürchteten Kampfstoff nicht verwendeten, weil sonst ihre ungeschützten Soldaten zwangsläufig zuerst gefährdet gewesen wären.
Einsatz erst nach Einbürgerung
Grundsätzlich wurden Flüchtlinge erst nach ihrer Einbürgerung zum Militär einberufen. Das galt für Walter Baer aus Idar, Ferdinand Eppstein aus Hoppstädten, Fred Gottlieb aus Nahbollenbach und Eric Scharawner aus Weierbach, die alle ihren Kriegsdienst antraten, nachdem sie die amerikanische Staatsbürgerschaft erlangt hatten. Ritchie Boys durften demgegenüber ihre militärische Einweisung bereits vor der Naturalisation beginnen und erhielten dann im Laufe der Ausbildung in einer festlichen Zeremonie die Einbürgerungsurkunde ausgehändigt.
Die einzelnen Schulungsabschnitte der Ritchie Boys summierten sich auf etwa ein Jahr. Wichtiger als gute Schießleistungen waren für die Feindaufklärer Orientierungsübungen sowie Sprach- und Morsekenntnisse. Verstöße gegen die militärische Disziplin wurden weniger ernst genommen als in den regulären Einheiten. Sogar hinsichtlich ihrer Verpflegung genossen die „Boys“ Privilegien, so erfreuten sie sich eines Kochs aus dem New Yorker Waldorf Astoria.
Nach der Landung in der Normandie unterstützten CIC-Einheiten nicht nur durch Hunderttausende Vernehmungen wirkungsvoll die kämpfenden Truppen, sondern versuchten zugleich, durch geschickte Propaganda die deutschen Soldaten zu demoralisieren und zur Aufgabe zu bewegen. An die Stelle der recht groben englischen Flugblatttexte setzten Stefan Heym und seine Mitstreiter einfühlsame persönliche Ansprachen, die die deutschen Soldaten emotional stärker beeindruckten.
Nachdem sie Radio Luxemburg übernommen hatten und dadurch weit nach Deutschland hinein Hörerinnen und Hörer erreichten, achteten die Ritchie Boys sorgfältig darauf, ihre Glaubwürdigkeit zu wahren und verzichteten auf Meldungen, die zu offensichtlich der Kriegspropaganda und nicht der Faktenlage des Kriegs geschuldet waren.
Der 1918 in Nahbollenbach geborene Kaufmann Max Siesel war als erster von vier Brüdern 1936 über Nordfrankreich nach New York geflohen und hatte in Brooklyn bei seiner Tante Rose Gottlieb eine Bleibe gefunden. 1941 zog ihn die US-Army ein. Am Feldzug in Europa nahm der im Camp Ritchie ausgebildete Soldat als Technischer Feldwebel teil. Seine Tochter Barbara vermutete 2020, er sei Ritchie Boy geworden, „weil er Deutsch und Französisch sprach und die deutsche Kultur verstand“.
Siesels Fähigkeiten wurden gebraucht bei Vernehmungen, der Herstellung und Verteilung von Flugblättern und beim Betrieb von Ton- und Bildanlagen; sie basierten auf einer ausgeprägten Improvisationsbereitschaft. Sein neun Jahre älterer Bruder Theodor hatte sich 1938 ebenfalls nach Frankreich abgesetzt. Im Sommer 1940 verwehrte ihm der Einmarsch deutscher Truppen die weitere Flucht nach New York.
So gelangte er auf dem Umweg über das unbesetzte Marseille und Trinidad erst im Sommer 1941 zu seinen Angehörigen in New York. Vor seiner Einbürgerung meldete er sich freiwillig beim Militär und wurde einer der ersten „Ritchie Boys“. Auf diese Weise erlangte er im Frühjahr 1943 die amerikanische Staatsbürgerschaft. Nach der Landung in der Normandie beteiligte er sich an der Befragung von Gefangenen.
Die eigene Schwester aufgespürt
Als die alliierten Truppen die Niederlande befreiten, fiel ihm eine weitere Aufgabe zu. Fortan sollte er jüdische Familien ausfindig machen, die die rigorosen Razzien der Nazis und ihrer niederländischen Helferinnen und Helfer überstanden hatten. Gestützt auf bezahlte Denunzianten, hatte die Gestapo rund 80 Prozent der Juden, die sich in den Niederlanden aufhielten, aufgespürt, in das Durchgangslager Westerbork verschleppt und anschließend nach Auschwitz oder Sobibor deportiert.
Irma Siesel, die Schwester von Max und Theodor, war in Hessen mit dem Viehhändler Willi Leopold verheiratet. 1936 floh sie mit Mann und Tochter in die Niederlande. Im friesischen Westerbroek hielt sich die Familie versteckt, wurde jedoch 1942 verraten und in das Lager bei Assen gebracht.
Manchmal verhalfen dieselben Denunzianten, die gegen Zahlung von 5 bis 7 Gulden der Gestapo die Aufenthaltsorte von Juden preisgaben, anschließend ihren jüdischen Opfern zur Flucht, sofern diese ihnen nennenswerte Geldbeträge oder Wertgegenstände übergeben konnten. Auch Irma Leopolds Familie gelang wohl auf diese Weise die neuerliche Flucht. Nach weiteren zweieinhalb Jahren in der Illegalität spürte Theodor Siesel seine Schwester in der Nähe von Groningen auf und sorgte so für ihre endgültige Rettung. Über Göteborg wanderte die Familie 1947 nach New York aus und bewirtschaftete in Vineland, New Jersey, eine Hühnerfarm.
Nach Kriegsende wurden Max und Theodor aufgrund ihrer Sprachkenntnisse in Deutschland eingesetzt. Kurzzeitig kehrten sie in ihr Heimatdorf an der Nahe zurück. Noch immer vernahmen die Ritchie Boys Deutsche – nun aber überwiegend Zivilisten. Die Erkenntnisse, die sie dabei gewannen, bildeten eine der Grundlagen für die schon bald einsetzenden Entnazifizierungsverfahren. Gebraucht wurden die „Boys“ überdies beim Aufbau demokratischer und freiheitlicher Medien sowie der Rückkehr zu rechtsstaatlichen Selbstverwaltungsstrukturen in den Kommunen.
Geschäfte in New York aufgebaut
Als er in England auf den Einsatz in der Normandie wartete, hatte Max Siesel 1944 die ihm bekannte Anne Stern aus Idar-Oberstein getroffen und kurz darauf geheiratet. Nach der Geburt von Tochter Catherine reiste das Ehepaar 1946 von Southampton aus auf der „Queen Mary“ in die Vereinigten Staaten. 1955 kehrte die Familie offenbar zur Klärung familienrechtlicher Regularien für kurze Zeit nach England zurück. Vom Militär entlassen, bauten sich beide Brüder in New York Geschäfte auf.
Max Siesel starb 1977 und hinterließ neben seiner Frau Anne die beiden Töchter Catherine und Barbara, die als Flötistin in New York lebt und 2020 im Rahmen einer Konzertreise in Hannover gastierte. Theodor Siesel überlebte Max um drei Jahre. Seine Tochter Diane Kremin lebt noch immer in New York.
Am 7. September verlegte der Kölner Künstler Gunter Demnig im Auftrag des Vereins Schalom und in Kooperation mit der Stadt Idar-Oberstein im Gehweg vor dem ehemaligen Ladenlokal von Louis und Mina Siesel in der Nahbollenbacher Straße Stolpersteine für sämtliche Mitglieder der Familie, die – selten genug in der NS-Zeit – alle den Nationalsozialisten entkommen waren.