Nach einem kurzen Blickkontakt mit dem Täter rennt er geistesgegenwärtig aus dem Hauptausgang raus und direkt in Richtung Polizeidienstelle, die sich nur ein paar Meter von der Tankstelle entfernt befindet. Und er telefoniert dabei unter Schock mit seinem Chef Stefan Matheis, dessen Ehefrau sofort die in Idar-Oberstein wohnende Tochter – Juniorchefin der Tankstelle – anruft: „Fahr zur Tankstelle. Es ist etwas passiert.“ Was genau, das ist zu diesem Zeitpunkt niemandem klar. Die 30-Jährige ist wenige Minuten später gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten am Tatort.
Die Tochter findet Alex hinter der Kassentheke liegend. Der Täter hat dem 20-Jährigen aus kürzester Distanz mitten ins Gesicht geschossen. Das Paar findet ein Blutbad vor, der Lebensgefährte der Juniorchefin versucht sofort zu helfen, beginnt mit einer Herzdruckmassage. Vergebens. Das Ehepaar Matheis macht sich umgehend auf den Weg zur Tankstelle. Das Gelände ist abgesperrt. Alle treffen sich schließlich auf der Polizeidienststelle: die Mutter des Getöteten, auch die beiden jungen Mädchen, die sich im Verkaufsraum der Tankstelle befanden, mit Alex geplaudert und ihre Einkäufe bezahlt hatten, sie hören draußen den Schuss. Der Täter hatte direkt hinter ihnen gestanden. Auch zwei Kunden, die gerade am Tanken waren, erleben die Tragödie unmittelbar, hören den Schuss, sehen, was danach passiert.
Aufschluss gibt das Videomaterial, das Stefan Matheis umgehend im Beisein der Polizei sichtet: Es eilt, das Material muss zu Fahndungszwecken so schnell wie möglich gefiltert werden. Der Täter ist auf der Flucht, womöglich Gefahr im Verzug. Dabei wird klar: Der Täter hat die Maske unters Kinn gezogen, steht direkt vor Alex. Der 20-jährige Schüler, der seit dem 1. Dezember 2020 an Wochenenden an der Tankstelle jobbte, sagt ganz ruhig: Der Kunde möge doch bitte die Maske anziehen. Das waren seine letzten Worte. Nur Sekunden später schießt der 49-jährige Täter aus Idar-Oberstein Alex ins Gesicht, er dreht sich ganz ruhig um, geht langsam zum Ausgang, blickt entspannt, so beschreibt es Stefan Matheis, nach oben in die Kamera – und zieht die Maske provozierend hoch. Eiskalt, brutal sei der Blick des Mannes gewesen. Als verschaffe ihm die Tat Genugtuung. Er flüchtet in aller Ruhe zu Fuß.
Das Ehepaar Matheis steht unter Schock. Es fließen oft Tränen, es dauert, bis man begreift, was passiert ist: Raubüberfälle auf ihre Tankstellen in Homburg (Saarland) und Kaiserslautern – seit 1989 ist man im Tankstellengeschäft – gab es schon viele: Aber niemals kam jemand körperlich zu Schaden. Die Tochter und ihr Lebensgefährte leiden unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, ebenso der zweite Mitarbeiter, der die Tat mit ansehen musste und zum Glück fliehen konnte. Alle drei erhalten in Trier bei Experten Hilfe, die die Organisation Weißer Ring initiiert hat. Die Berufsgenossenschaft hingegen sei nicht in dem Maß tätig geworden, wie man es sich gewünscht hätte. In der Tatnacht habe man zudem keine medizinische Hilfe oder Seelsorge organisiert, kritisiert Elke Matheis.
Die schrecklichen Bilder. Sie bleiben. Auch für Stefan Matheis: Einen Tatortreiniger informierte niemand. Auch da gab es keine Unterstützung oder Angebote. Stefan Matheis will seiner Familie und Mitarbeitern ersparen, sich darum kümmern zu müssen. Er reinigt selbst alles penibel bis ins kleinste Detail. Vier Stunden dauert diese Arbeit, die er wie im Tunnel erledigt. Nicht nachdenken. Nicht fühlen. Das kommt später.
Am frühen Sonntagnachmittag nach der Tat – das Team der kriminaltechnischen Untersuchung hat seine Tätigkeit beendet, und der Täter hat sich am frühen Morgen gestellt – öffnet die Tankstelle wieder. „Wie kann man nur ...“, kritisieren einige Menschen in den sozialen Netzwerken. Für das Ehepaar Matheis völlig unverständlich: „Wir haben das bewusst so gemeinsam mit unseren Mitarbeitern entschieden. Das ist ja eine psychologische Frage: Wir können doch hier keine Hemmschwelle aufbauen. Für uns alle ist das unfassbar grausam. Aber hier arbeiten Menschen. Wir halten zusammen. Wie eine große Familie. Wir sind zudem die einzige Tankstelle mit 24-Stunden-Betrieb hier“, stellt das Ehepaar klar. Zur Trauer und zum Schock kommt dann auch angesichts verletzender und provozierender Reaktionen Wut dazu.
Und dann ist da die riesige Anteilnahme, die einfach nur gut tut: das Blumenmeer, die Kuscheltiere, die Kerzen, die Bilder, die Kinder gemalt haben, Fotos, die Alex mitten im Leben zeigen – diese Trauerecke, Raum für Schmerz, bleibt. Sie ist für Alex. „Ein sehr freundlicher, höflicher umgänglicher Mitarbeiter, ein hübscher und humorvoller junger Mann, mit dem alle sehr gern gearbeitet hätten. Und er wird nie vergessen“, sagt das ganze Team der Tankstelle.
Die Spendenbox – das Geld soll die Mutter des Getöteten für eine würdevolle Beerdigung erhalten – wurde schon zweimal geleert. Es werden wohl mehr als 5000 Euro. Kaum jemand, der beim Bezahlen an der Kasse nicht einen Schein reinwirft und traurig auf das Porträtfoto mit dem schwarzen Rand blickt – kaum jemand, der draußen nicht innehält. Der 18. September wird immer ein schwarzer Tag bleiben. Das weiß das Ehepaar Matheis. Wie schreibt jemand auf einem pinkfarbenen Karton an der Trauerstelle? „Ehrt Alex, indem ihr Menschlichkeit bewahrt.“