Die Kritik der neuen Bundestagspräsidentin Julia Klöckner an den Kirchen in Deutschland hat bundesweit Wellen geschlagen. Klöckner hat dazu aufgerufen, die Seelsorge der Menschen wieder mehr in den Mittelpunkt zu rücken, statt sich übertrieben politisch zu engagieren. Auf die Frage, warum immer mehr Menschen aus den Kirchen austreten, sagte sie, dass Kirche „nicht immer die Antworten gibt, die die Menschen gerade brauchen“. So hätte die Kirche etwa in der Corona-Zeit „vielleicht noch einen Tick mehr an Stabilität, mehr an Sinnstiftung und Seelenbegleitung geben können“.
Die Guldentalerin kritisierte zudem eine Tendenz bei den Kirchen, Stellungnahmen zu tagesaktuellen Themen abzugeben „wie eine NGO“ und nicht mehr „die grundsätzlichen Fragen von Leben und Tod“ im Blick zu haben. Klöckner sagte: „Klar kann sich Kirche auch zu Tempo 130 äußern, aber dafür zahle ich jetzt nicht unbedingt Kirchensteuer.“ Sie erwartete von Kirche eher eine „sinnhafte Begleitung, Antwort auf Fragen, die ich in meinem Alltag habe, auch Trost und Stabilität“.

Vera Müller meint: Kirche muss nah an den Menschen sein
Wie politisch darf Kirche sein? Diese Frage wirft ein Klöckner-Interview auf. Unsere Redakteurin Vera Müller kommentiert: „Kirche muss politisch sein, um nah an den Menschen zu sein.“
Jutta Walber, Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises Obere Nahe, findet, „dass Frau Klöckner eine merkwürdige Vorstellung vom Menschen aus christlicher Perspektive hat: Körper und Seele sind immer miteinander verbunden.“ Die Kirche sei „im Auftrag und in der Nachfolge Jesus Christi unterwegs. Und da kann man nicht zwischen dem seelischen und dem leiblichen Wohl unterscheiden.“ Deshalb könne man sich angesichts der vielfältigen aktuellen gesellschaftlichen Probleme „nicht aufs Seelentrösten zurückziehen“.
„Es ist sehr wichtig, Position zu beziehen.“
Jutta Walber, Superintendentin des evangelischen Kirchenkreises Obere Nahe
Im Gegenteil: „Es ist sehr wichtig, Position zu beziehen – auch und gerade im 80. Todesjahr von Dietrich Bonhoeffer“, sagt Walber. Es sei „nicht nur das Recht (der Kirche), sondern auch ihre Pflicht, sich für Schwache und Unterdrückte stark zu machen“. Dazu gehöre ausdrücklich, dass Kirche „aus dem Glauben heraus politische Statements gibt und Entscheidungen kritisiert“ – auch wenn sie selbst durchaus nachvollziehen könne, dass vielen konservativen Politikern und Gläubigen die Kirche in der jüngsten Vergangenheit „zu sehr nach links gerückt ist“, räumt Walber ein.

Robert Neuber findet: „Weltbild ja, Kirche nein“
Wie politisch darf Kirche sein? Diese Frage wirft ein Klöckner-Interview auf. Unser Redakteur Robert Neuber kommentiert: Die Kirche verliert, weil sie zu wenig Sinn stiftet, dafür zu oft eine woke Belehrungshaltung einnimmt.
Die Kirche müsse weiterhin alles Erdenkliche tun, um bei der Integration zu unterstützen, sie müsse auch auf die zugehen, die angesichts der Probleme in Deutschland sagen: „Das schaffen wir nicht“, ist die Superintendentin überzeugt. Denn: „Viele fühlen sich überfordert. Das bedeutet für die Kirche, dass wir uns noch mehr engagieren sollten.“ Zum Beispiel in der Arbeit in den Kitas – der Kirchenkreis betreibt unter anderem die Kita „Regenbogen“ in Oberstein, in der laut Walber „nur sehr wenige evangelische Kinder“ sind. „Dort wie in allen unseren anderen Kitas versuchen wir, Familien ein gutes Standing in der Gesellschaft zu ermöglichen und Kindern Zukunftschancen zu eröffnen. Das muss man alles zusammen denken.“
Kirche nicht bloß als rein geistige Instanz betrachten
Michael Michels, Pastoralreferent im Pastoralen Raum Idar-Oberstein, vertritt Michels eine klare Meinung: „Ich weiß, was sie meint. Das ist auch nicht ganz falsch. Aber letztlich ist es verfehlt, Kirche als rein geistige Instanz zu betrachten, die nur Seelsorge betreibt. Seelsorge hat etwas mit den Rahmenbedingungen der Menschen zu tun und ist deshalb in sich nicht unpolitisch und davon losgelöst zu betrachten.“
Frederik Grüneberg (CDU), Mitglied im Idar-Obersteiner Stadtrat und im Kreistag, sagt: „Kirche darf auch gesellschaftspolitisch sein. Sie prägt durch die Vermittlung und Ausgestaltung des Glaubens auch den Wertekompass der Menschen, und das ist gut so. Jedoch sollten sich die Glaubensgemeinschaften aus der Diskussion tagaktueller Alltagspolitik raushalten und auf ihre politischen Kernkompetenzen beschränken – die Vermittlung von Werten.“ Es gehe bei der aktuellen Debatte nicht darum, ob sich Kirche gesellschaftspolitisch positioniere oder nicht. Sondern um die Gewichtung. Wenn sie wie Parteien tagespolitisch Stellung nehme bis hin zum Tempolimit, sei das am Ziel vorbei, ist der CDU-Politiker überzeugt: „Kirche muss anders sein als alle anderen. Sich vor allem um Glaubens-, Sinn- und Wertefragen kümmern, nicht dem Mainstream gefallen.“
Nicole Höchst (AfD) sieht sich bestätigt
Die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst freut sich über die Klöckner-Äußerungen und kommentiert auf ihrem Facebook-Profil: „Frau Bundestagspräsidentin Julia Klöckner, zu Ihrer klugen Einlassung in Ihrem Interview in der Bild-Zeitung bezüglich der Situation und des Agierens der Kirchen in Deutschland ist Ihnen zu gratulieren. Ob wissentlich oder unwissentlich teilen Sie hier fast eins zu eins die Gedanken meines Interviews im Freilich-Magazin vor einigen Monaten.“ Sie freue sich sehr „über solch deutliche Gemeinsamkeiten, die jenseits des tagesaktuellen, parteipolitischen Gefechts sehr Grundlegendes ansprechen. Es ist für unsere Gesellschaft, Demokratie und Wohlfahrt des Staates von immenser Bedeutung, dass die Menschen einen vom Staat unabhängigen Raum finden, der ihr Innerstes betrifft und Rat und Sinn stiftet. Das war immer die Aufgabe der Kirche und auch ihre Pflicht vor Gott. Es bleibt zu wünschen, dass sich die Kirchen auf ihr Kerngeschäft der Seelenführung und des Sakralen wieder besinnen. Dafür gilt es zu beten.“
Christoph Eckert, Pfarrer der St. Jakobus-Kirche in Birkenfeld, stimmt den Aussagen der Bundestagspräsidentin teils zu. „In der Heiligen Schrift steht, dass man für die Politiker beten soll, darüber hinaus würde ich mich nicht zu simplen tagespolitischen Fragen äußern“, sagt der Pfarrer der St. Jakobus Kirche in Birkenfeld. Doch es gebe auch Momente, in denen die Kirche sich äußern müsse. „Wenn Dinge politisch infrage gestellt werden, die für den christlichen Glauben elementar sind wie die Freiheit oder die Würde des Menschen, dann ist es Aufgabe der Kirche, sich dem im Sinne der Auslegung von Gottes Wort entgegenzustellen“, ist Eckert überzeugt.
„Das wäre sicher angenehm für Politiker, wenn die Kirche sich nicht mehr zu politischen Themen äußern würde. Den Gefallen werden wir ihnen aber nicht tun.“
Jennifer Breuer, Pfarrerin der evangelischen Hoffnungsgemeinde Nahe-Hochwald
Die Pfarrerin der evangelischen Hoffnungsgemeinde Nahe-Hochwald, Jennifer Breuer, widerspricht Klöckners Aussagen vehement. „Das wäre sicher angenehm für Politiker, wenn die Kirche sich nicht mehr zu politischen Themen äußern würde. Den Gefallen werden wir ihnen aber nicht tun.“ Breuer sieht die Kirche mit einem klaren gesellschaftskritischen Auftrag versehen. „Wir als Pfarrerinnen und Pfarrer sind in die Welt gesandt, um uns für die Armen und Schwachen einzusetzen“, ist sie überzeugt. „Zum Tod Jesu kam es mit Sicherheit auch nicht, weil er für die Politiker seiner Zeit angenehm war“, fügt Breuer hinzu.
Auch auf Klöckners Aussagen zur Rolle der Kirche in der Pandemie reagiert die evangelische Pfarrerin mit Unverständnis. Ihre Gemeinde habe alles getan, was zu dieser Zeit möglich gewesen wäre. „Wir haben regelmäßig Post an die zu Hause festsitzenden Kinder geschickt, Chöre draußen vor den Altersheimen organisiert und sind insgesamt kreativ mit der Situation umgegangen“, zählt sie auf. „Manchmal sind es vielleicht nicht die großen Aktionen, die Wirkung zeigen“, fügt sie hinzu. „Ich bin verwundert, dass die Konzentration auf seelsorgerische Angebote in der Corona-Zeit Frau Klöckner nun doch wieder nicht gefällt.“