„Bei vielen wird es noch einige Zeit dauern, bis sie wieder annährend ein normales Leben führen können.“ Beispielhaft möchte er den Fall einer kleinen, inzwischen dreiköpfigen Familie M. skizzieren, die er seit rund einem Jahr betreut. Begonnen hat die Misere des Ehepaares Carolin und Kai M. (Name geändert) schon während des ersten Lockdowns. Beide verloren durch die notwendigen Maßnahmen ihre Arbeit. „Carolin M. arbeitete in der Gastronomie. Das Kurzarbeitergeld lief nur wenige Wochen, da ihr Chef Konkurs anmelden und sie daraufhin entlassen musste“, berichtet Reichert.
Auch bei Kai M. lief es nicht besser. Der mit einem Kleinbetrieb in der Eventbranche tätige Unternehmer hatte keine Möglichkeit mehr, seinem Gewerbe nachzugehen und musste Insolvenz anmelden. Im Gegensatz zu seiner Frau fand er jedoch als gelernter Handwerker relativ schnell wieder eine Arbeit. „Das Glück hatte ich als Hotelfachfrau leider nicht“, berichtet Carolin M. „So saß ich zu Hause, war gefrustet und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Hinzu kam diese fürchterliche Isolation – aber das kennt sicherlich jeder, das haben wir ja alle erlebt. Ich habe da sehr drunter gelitten und glaube alles, was danach noch kam, war einfach nur ein Ventil dafür.“ Carolin M. begann, ihre Zeit mehr und mehr im Internet zu verbringen. Zunächst mit dem Streamen von Videos und Serien, dann in Onlinechats und auf Social-Media-Plattformen.
Im Internet bestellt
„Das war zunächst sehr nett, aber die vielen Hasskommentare haben mich irgendwann nur noch angewidert – gerade, weil ich schwanger geworden war, wurde ich da ganz sensibel. Als dann einige Haushaltsgeräte kaputt gingen und wir die im Internet bestellt haben – normal kaufen konnte man die ja nicht, die Geschäfte hatten ja zu – da ist es dann passiert.“ Die junge Frau bestellte mehr und mehr online: zunächst benötigte Artikel, überwiegend Kinderausstattung und dann vermehrt, um ihre Lust am Kaufen zu befriedigen.
„Es wurde immer mehr. Das war alles so spannend: Erst bestellt man, dann bekommt man die Versandbenachrichtigung und kann genau verfolgen, wo sich gerade das Päckchen befindet. Der Tag der Lieferung war dann immer das totale Highlight. Ich habe schon an der Tür gelauert, um es entgegenzunehmen – und als es dann da war, kam das schlechte Gewissen. Ich wusste ja, dass wir nicht mehr so viel Geld zur Verfügung hatten, aber ich habe komplett die Kontrolle verloren. Ich konnte einfach nicht mehr anders, war wie berauscht, wie von Sinnen, lag nachts wach und dachte daran, was ich noch alles kaufen könnte. Da ich ja unsere Finanzen verwaltet habe, hat mein Mann auch lang nichts davon gemerkt. Mahnungen habe ich auch abgefangen – ich war ja schließlich den ganzen Tag zu Hause. Ich konnte aber nicht aufhören. Es war eine Sucht.“ Als dann Ermittlungen wegen Betruges gegen Carolin M. eingeleitet wurden, erfuhr ihr Ehemann von der Kaufsucht seiner Frau.
Nach einigen Krisengesprächen wandten sich dann beide auf Anraten einer Freundin an die Suchtberatungsstelle des Diakonischen Werkes in Idar-Oberstein. „Wie so häufig bei einer Kaufsucht, haben wir gleich zu Beginn der Beratung zweigleisig fahren müssen. Das heißt: Wir konnten nicht, wie normalerer Weise üblich, zunächst nur stabilisierende Maßnahmen im Bereich Sucht erarbeiten, sondern mussten sofort auch an die Schulden ran, um Schlimmeres zu verhindern“, kommentiert Reichert. „So konnten wir weitere Betrugsanzeigen sowie den Verlust der Wohnung abwenden.“
Er informiert weiter: „Kaufsucht ist noch nicht in den ICD-Katalog der WHO aufgenommen worden und damit noch keine anerkannte Erkrankung. Dadurch entstehen juristisch andere Konsequenzen wie zum Beispiel bei einer Alkoholsucht, die sich unter bestimmten Voraussetzungen strafmildernd auswirken kann. Dies ist auch der Grund, warum gerade in Bezug auf entstandene Zahlungsunfähigkeiten schnell reagiert werden muss.“ Die finanzielle Situation konnten die Experten in den Griff bekommen, was sehr viel Druck von Carolin M. nahm und ihr Abstinenzbestreben erleichterte.
Die Strom- und Heizkostennachzahlung wegen gestiegener Energiekosten Anfang des Jahres habe die Situation allerdings nochmals stark verschärft: „Ohne Heizung und Strom ist ein Säugling nicht mehr zu versorgen, und es liegt eine Kindeswohlgefährdung vor. Mit finanzieller Hilfe aus der Verwandtschaft konnte Familie M. dieses Problem lösen. Das staatliche Paket wäre einfach zu spät gekommen“, ergänzt Reichert. Behandelt wird eine Kaufsucht ähnlich wie jede andere Suchterkrankung, informiert der Experte.
Versuchung stets spürbar
Der erste Schritt sei in der Regel der Weg zu einer Suchtberatungsstelle. Hier werde zunächst geklärt, ob eine Sucht vorliegt. Erste Maßnahmen zur Stützung einer Abstinenz können getroffen und falls nötig und gewünscht, eine Vermittlung in eine Therapie vorgenommen werden. Therapieangebote gibt es in ambulanter und stationärer Form.
„Ich stehe seit gut einem Jahr in Kontakt mit der Suchtberatung und habe seitdem auch nichts mehr gekauft – also nichts, was wir nicht wirklich gebraucht hätten. Die Versuchung war manchmal sehr groß, gerade wenn es mir schlecht ging, aber die Beratung und die Geburt unserer Tochter haben mir dabei sehr geholfen. Zunächst habe ich auch eine stationäre Therapie in Betracht gezogen, aber wegen meiner Schwangerschaft und auch wegen Corona hat das dann doch nicht funktioniert. Zurzeit mache ich eine ambulante Gesprächstherapie. Es zeichnet sich allerdings ab, dass die vermutlich nicht ausreichend sein wird. Die Corona-Lage entspannt sich ja inzwischen, und es gibt Einrichtungen, die mich als Mutter mit Kind aufnehmen. Wegen Betruges bin ich leider verurteilt worden.“
Die Strafe könne sie abstottern: „Finanzielle ist es sehr eng, und um eine Verbraucherinsolvenz werde ich nicht drum herum kommen. Es sind einfach zu viele Schulden, die ich durchs Kaufen angehäuft habe. Mithilfe des Diakonischen Werkes bereite ich jetzt alles für die Insolvenz vor. Es wird noch einige Jahre brauchen, bis ich mich aus dieser Krise befreit habe“, weiß Carolin M, die sich dennoch zuversichtlich gibt und aus ihren Erfahrungen gelernt hat.