Hätte. wenn er bei der Eröffnung des Verfahrens anwesend gewesen wäre. Verteidigerin Lilla Juharos (Trier) teilte mit, er treffe circa eine halbe Stunde später ein. Als der Mann fast eine halbe Stunde später erschien, ließ die Richterin Laura Hebling ihrem Frust freien Lauf und postulierte: Dies sei „kein gutes Bild für eine Berufung, wenn man weiterhin Termine nicht einhält.“
Angeklagt war der Mann wegen Verstößen gegen Weisungen während der Führungsaufsicht in acht Fällen. Das Amtsgericht Idar-Oberstein hatte den Mann am 11. Juni zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von neun Monaten verurteilt. Die Strafe wurde nicht zur Bewährung ausgesetzt. Insoweit war absehbar, dass es um eine sogenannte Rechtsfolgenbeschränkung ging: mildere Strafe und Bewährung.
Was die Vorsitzende aus den Akten verlas, hatte es in sich: Er kam im Alter von zwei Jahren mit seiner Mutter aus Kasachstan nach Deutschland. An den Vater habe er keine Erinnerung und auch keinen Bezug. Mit sechs Jahren wurde er eingeschult, hatte mit festgestelltem ADHS erhebliche schulische Probleme. Die Hauptschule verließ er mit 14 Jahren im siebten Schuljahr – und blieb ohne Perspektiven zu Hause. Er kam schließlich mit Alkohol und Drogen in Kontakt, der Einstieg in sein kriminelles Leben. Bier, Wodka, Cocktails, Haschisch und Amphetamin bestimmten die Jugendzeit. Mit 16 Jahren kam er erstmals in Haft und holte dort den Hauptschulabschluss nach.
Von 16 bis 21 Jahren in Haft
Die gesamte Haft dauerte eigenen Angaben nach fast fünf Jahre. Der Angeklagte hat elf Einträge im Bundeszentralregister: versuchter Totschlag, gefährliche Körperverletzung, Einbrüche, Diebstahl mit Waffen, Drogendelikte. Zwischenzeitliche Alkoholgewöhnung wurde mit festgestellten Promillewerten von 1,75 und mehr deutlich – bei fehlenden Ausfallerscheinungen.
Im Alkoholrausch kam es fast zu einem Tötungsdelikt. Er hatte im Jahr 2011 mit 16 Jahren einen Bekannten mit Schlägen und Tritten gegen Kopf und Bauch so schwer verletzt, dass dieser nur durch nächtliche Notoperation gerettet werden konnte: Zwei Tage Intensivstation und zehn weitere Tage stationär im Krankenhaus wegen Schädel-Hirn-Trauma und Blasenriss.
Eine 22 Zentimeter lange OP-Narbe und weitere Spätfolgen erinnern das Tatopfer noch heute an die Attacke, die nur mit raschem Polizeieinsatz und Täterflucht ihr Ende fand. Polizisten holten den sich schlafend stellenden Täter damals aus dem Bett und nahmen ihn fest. Die entnommene Blutprobe ergab 1,75 Promille. Es folgten Untersuchungshaft und Verurteilung wegen versuchten Totschlags. Die Haftzeit verbrachte er überwiegend im Maßregelvollzug (Jugendpsychiatrie und Entzug).
Im Jahr 2019 kam er unter Führungsaufsicht. Diese kann bis zu fünf Jahre andauern. Diese 1975 eingeführte Führungsaufsicht soll mit erweiterter Kontroll- und Überwachungsmöglichkeit dazu beitragen, Straftaten zu verhindern und rechtzeitig relevante negative Sozialentwicklungen feststellen.
Im Falle des angeklagten 30-Jährigen umfassten die Weisungen unter anderem Alkohol- und Drogenabstinenz sowie regelmäßige Urinproben und enger Kontakt zur Bewährungshilfe. Insgesamt acht Termine hatte er jedoch bei Gesundheitsamt und Bewährungshelferin unentschuldigt verstreichen lassen. Seine Aussage dazu: „Ich hatte Angst.“ Bei einem Screening wurden Alkohol und Drogen festgestellt, eine zweite Probe war manipuliert.
Den Lebensunterhalt bestritt er laut Bewährungshilfe „durch Zuwendungen seiner Mutter, die auch mit monatlichen Raten von 100 Euro aufgelaufene Schulden zu tilgen versucht“. Wie schwierig der Umgang mit ihm und seine psychiatrische Begutachtung ist, wurde aus verlesenen Berichten von Psychiatrie, Strafvollzug, Bewährungshilfe und dem Gutachten des Sachverständigen deutlich: Einmal erklärt er sich auf Anraten der damaligen Verteidigung als alkoholabhängig – und landet im Maßregelvollzug.
Ein anderes Mal beschreibt er sich gegenüber Gutachter Dr. Lutz Mittelbach (Emmelshausen) als „von Alkohol abstinent“. Im Prozess erklärte der Sachverständige, dass bei dem Angeklagten „keine Psychose, möglicherweise aber eine dissoziale Persönlichkeitsstörung feststellbar“ sei. Mittelbach erklärte: „Er kann auf Alkohol und Drogen verzichten, wenn er will.“ Eine eingeschränkte Schuldfähigkeit sehe er nicht. Eine spätere ambulante Therapie hatte der Angeklagte von sich aus abgebrochen.
Anwältin sieht eine Besserung
Im Schlussvortrag bedankte sich die Anwältin Juharos, dass das Gericht trotz der Verspätung die Berufung nicht von vornherein verworfen habe. Immerhin sei jetzt ein umfassendes Bild einer misslungenen Unterbringung in Entzug wie Strafhaft entstanden. Jetzt sei aber guter Wille erkennbar, auch wenn das heutige Zuspätkommen ihr deutlich missfalle. Der Angeklagte habe sich beim Arbeitsamt als arbeitssuchend registrieren lassen und mit Bürgergeld erstmals eigenes Geld zur Verfügung. Er habe jetzt auch eine Arbeitsstelle zum 1. November in Mainz in Aussicht „So weit wie jetzt war er noch nie. Soll er jetzt wegen ein paar versäumter Terminen in Haft?“, sagte sie und beantragte eine Bewährungsstrafe.
Dem hielt Staatsanwalt Dominik Radzivilovskij entgegen, dass er in acht Fällen Weisungsverstöße begangen, aber wenigstens ein Geständnis abgelegt habe: „Das war es.“ Er habe einen Arbeitsvertrag vorgelegt – ohne zu wissen, was er in Mainz überhaupt arbeiten soll. Die „Bewerbung“ lief nur über einen Kumpel. „Er kommt nicht in Haft, weil er ein paar Termine versäumt hat, sondern wegen acht Straftaten.“ Der Staatsanwalt beantragte, die Berufung als unbegründet zu verwerfen.
Dem folgte Richterin Hebling mit den Schöffen. Der Angeklagte halte sich an keine Weisungen, sei im November 2018 nach Lockerungsmaßnahme im Maßregelvollzug den Bewachern davongelaufen – und in einem wartenden Fahrzeug geflüchtet. Die Flucht dauerte zwei Monate und wurde nach weiteren Einbrüchen nach halsbrecherischer Verfolgungsfahrt bis 140 km/h am 26. Januar 2019 von der Polizei beendet. „Wir haben kein Vertrauen, dass sie sich zukünftig an Weisungen halten“, sagte sie – und schickte ihn für weitere neun Monate in Haft …