Nach Abstimmung im Bundestag
Frühe Risse in der schwarz-roten Koalition
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) verlässt nach dem ersten Wahlgang der Kanzlerwahl den Plenarsaal. „Unverantwortlich“ nennt sie das Abstimmungsverhalten einiger Abgeordneter.
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Es war ein historischer Moment: Noch nie fiel ein Kanzlerkandidat bei seiner Wahl im Deutschen Bundestag im ersten Wahlgang durch. Am Dienstag war es so weit – und Julia Klöckner musste das Wahlergebnis mit versteinerter Miene bekanntgeben. 

Für Bundestagspräsidentin Julia Klöckner war es fraglos ein sehr intensiver, anstrengender Tag, den sie souverän im Plenum eröffnet hatte. Und dann kam alles anders: kaum im Amt, und schon passiert Historisches. Mit ernster, fast versteinerter Miene verlas sie das erste Wahlergebnis: Friedrich Merz ist nicht zum Bundeskanzler gewählt worden…

„Unverantwortlich“ – mit einem einzigen Wort kommentierte die 52-Jährige den ersten Wahlgang im Anschluss gegenüber unserer Zeitung. Zeit für ausführliche Statements und Interviews blieb angesichts der Dynamik der Ereignisse nicht, schon am Nachmittag stand der zweite Wahlgang an. Passt auch nicht als Bundestagspräsidentin, die ein Stück über den Dingen stehen muss. Im Anschluss an das Wahldebakel gab eine Menge zu besprechen. Alle Parteien an einen Tisch, Gespräche an jeder Ecke: Wie geht es weiter? Was geht? Was geht nicht? All das muss auch juristisch Bestand haben und alle Formalien erfüllen. Mittendrin Julia Klöckner als Bundestagspräsidentin. Erleichterung dann am Nachmittag: Im zweiten Wahldurchgang wurde der neue Bundeskanzler dann mit deutlicher Mehrheit gewählt.

Der Birkenfelder CDU-Kreisvorsitzende Stephan Dreher gab sich nach dem ersten Abstimmungsergebnis relativ entspannt: „Für mich war das kein Chaos, sondern ein urdemokratischer Vorgang. Das Ergebnis sollte man nicht überbewerten.“ Ob sich allerdings jeder Abgeordnete bei der Stimmabgabe seiner Verantwortung bewusst war, „wage ich zu bezweifeln“. Mit Blick auf feixende AfD-Abgeordnete „möchte ich allen Nein-Sagern zurufen: Nicht zu Ende gedacht.“ Dreher ist sich nicht sicher, ob es sich beim Abstimmungsverhalten am Dienstag tatsächlich um einen Denkzettel für die Vielzahl der Wortbrüche im Vorfeld der Koalitionsfindung gehandelt hat: Das sei zwar „nachvollziehbar, aber nicht zielführend“. Jetzt gelte es, mit einer guten Regierungsarbeit „gegen die Stammtischparolen vorzugehen und Wähler in die Mitte zurückzuholen. Das heißt: Es muss vernünftig zusammen ,geschafft’ werden.“

Der vormalige SPD-Bundestagskandidat Joe Weingarten sagt: „ Das Scheitern von Merz im ersten Wahlgang zeigt, dass diese Koalition auf weitaus dünnerem Eis gebaut ist, als das nach außen vermittelt werden soll. Ich vermute, dass es sowohl bei den Unionsparteien als auch bei der SPD Menschen gibt, die die Wankelmütigkeit von Herrn Merz und die Tatsache, dass er heute oftmals etwas völlig anderes sagt als vor der Bundestagswahl, nicht vergessen haben. Und es mag auch eine Rolle spielen, dass in der Koalitionsvereinbarung zwar viele Formelkompromisse stehen, aber für Union und SPD entscheidende Themen – von der Begrenzung der illegalen Migration bis zum Mindestlohn – nicht wirklich geklärt sind.“

Im Bundestagswahlkampf besuchte Friedrich Merz gemeinsam mit Nahe-Kandidatin Julia Klöckner Stromberg.
Rainer Gräff

Markus Schulz, Hettenrodter Ortschef und Vorsitzender der SPD im Kreis Birkenfeld, kommentiert: „Ich bin nahezu sprachlos. Nach der Verkündung der Ministerbesetzungen war ich positiv überrascht und habe mir erste 100 Tage der Geschlossenheit, des Zusammenhalts und der Entschlossenheit erwartet. Dass dieses Gebilde eines über mehrere Wochen scheinbar konstruktiv ausgearbeiteten Koalitionspapiers bereits vor dem Start gewaltige Risse erhält, lässt mich ratlos dreinblicken.“ Gerade in diesen unruhigen, instabilen Zeiten brauche es eine starke Regierung für Deutschland, aber auch einen verlässlichen Partner in der Mitte Europas und der Welt: „Wenn sich die gewählten Vertreter dann in ihrer Verantwortung derart verhalten, führt dies zu weiterem Vertrauensverlusten in die Politik und in Deutschland als stabiler Partner in Europa. Ich hoffe, dass sich die handelnden Personen zusammenraufen und ein Bündnis der Vernunft schließen.“

Die Idar-Obersteinerin Caroline Pehlke, SPD-Fraktionsvorsitzende im Kreistag Birkenfeld, betont: „Das Ergebnis im ersten Wahlgang zeigt, wie herausfordernd innerparteiliche Einigungen auch in etablierten Parteien sein können. Gerade in bewegten Zeiten braucht unser Land klare politische Führung und Stabilität. Wenn diese ins Wanken gerät, wirft das auch im internationalen Kontext Fragen auf. Als SPD setzen wir deshalb weiter auf konstruktive Zusammenarbeit, Verlässlichkeit und einen respektvollen Umgang über Parteigrenzen hinweg – im Sinne der Demokratie und der Menschen in unserem Land.“

Frederik Grüneberg, CDU-Kreistagsmitglied und Fraktionsvorsitzender der CDU im Idar-Obersteiner Stadtrat, ist „entsetzt über das Abstimmungsverhalten. Jeder einzelne Abgeordnete der beiden Koalitionsparteien sollte sich an den Titel des Koalitionsvertrags erinnern: Verantwortung für Deutschland und danach handeln. Verantwortungsbewusst ist es, den gemeinsamen Kanzlerkandidaten im ersten Wahlgang zu wählen und damit Stabilität und den politischen Wandel, den dieses Land bitter nötig hat, zu ermöglichen.“

Bestürzung bei der CDU: Friedrich Merz (Mitte) ist bei der Kanzlerwahl im Bundestag im ersten Wahlgang durchgefallen.
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Angelina Huber, Vorsitzende des SPD-Ortsvereins Schwollbachtal, hat den ersten Wahlgang im Live-Stream verfolgt. „Meine erste Reaktion auf das Ergebnis? Ich war ehrlich erschrocken“, sagt die Sozialdemokratin. Sie habe sich gewünscht und wünsche sich auch für die Zukunft, dass mehr Einheit gezeigt werde. „Union und SPD müssen Stärke demonstrieren und zeigen, dass sie in schweren Zeiten gemeinsam regieren können.“ Der Eintritt ihrer Partei in die Koalition hält Huber für „richtig und wichtig“. So hätten auch eine große Mehrheit der SPD-Mitglieder für den Koalitionsvertrag gestimmt. „Richtig und wichtig ist es aber auch, dass es in einer Koalition Meinungsverschiedenheiten gibt“, fügt die Sozialdemokratin hinzu. Ob das unbedingt bei der Kanzlerwahl ausgetragen werden müsse, stehe allerdings auf einem anderen Blatt Papier. „Hier wollte entweder der linke Flügel der SPD oder der rechte Flügel der CDU ein Zeichen setzen“, glaubt Huber.

Hans-Joachim Billert, Kreistagsmitglied der Grünen und Fraktionssprecher im VG-Rat Herrstein-Rhaunen, glaubt an einen Denkzettel beim ersten Wahlgang: „Das ist schade. Wir brauchen jetzt eine handlungsfähige Regierung.“ Er bedauert auch, dass der Klimaschutz im Regierungsprogramm zu kurz kommt.

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