„Kinder sollten nicht bis 45 zählen müssen. Denn 45 Sekunden dauert es, bis eine in Russland gezündete Bombe in der Millionenstadt Charkiw im Nordosten der Ukraine nach dem Alarm einschlägt“, sagte der ukrainische Botschafter Oleksii Makeiev. Und wie ein solcher Luftalarm klingt, wie die Sirenen durch Mark und Bein gehen, das demonstrierte er mit einer Audio-Einspielung über sein Smartphone. Es wurde sehr still in der Göttenbach-Aula.
Rund 170 Gäste, darunter einige aus der ukrainischen Gemeinschaft in Idar-Oberstein, waren auf Einladung des SPD-Stadtverbandes und des SPD-Bundestagsabgeordneten Joe Weingarten zum Bürgerdialog gekommen. Die gut eineinhalbstündige Veranstaltung bildete den Abschluss eines höchst interessanten Besuchs des Botschafters und Nachfolger von Andrij Melnyk in Idar-Oberstein, dessen Bedeutung als Edelsteinstadt dieses Mal nebensächlich war.
In Idar-Oberstein werden ukrainische Soldaten ausgebildet
In Idar-Oberstein werden seit Anfang Mai vergangenen Jahres ukrainische Soldaten in der Artillerieschule an der Panzerhaubitze 2000 ausgebildet: Auch dort war Makeiev am Nachmittag zu Gast.
Oleksii Makeiev ist ein Mann der leisen Töne: Im Gegensatz zu seinem polternden Vorgänger Andrij Melnyk setzt der ukrainische Botschafter auf Kooperation. Im Interview macht der Diplomat aber deutlich, dass er mit Russland keine Kompromisse eingeht.Ukrainischer Botschafter im RZ-Interview: „Russland versteht nur die Sprache der Stärke“
Der 47-Jährige gab sehr persönliche Einblicke in sein Diplomatenleben, wirkte sehr kommunikativ, zugewandt, moderierend, der Situation angemessen ernst, aber auch durchaus an einigen Stellen humorvoll – ein stolzer Vertreter eines stolzen Landes, wie er jüngst bei einem Interview über sich selbst sagte. Das Sprachtalent, das seit Oktober 2022 offizieller Vertreter der Ukraine in Deutschland ist, war schon in jungen Jahren an Außenpolitik interessiert.
Er ist auf Du und Du mit Weingarten, der Makeiev einen Freund nennt. Der heimische Bundestagsabgeordnete räumte ein: „Ich habe bereits viel von ihm gelernt, und wir sind im stetigen Austausch.“ Im von Rouven Voigt, Mitarbeiter des Weingarten-Büros, moderierten Dialog wurde deutlich, wie eng, vertraut und intensiv dieser Austausch ist.
Eine Randnotiz des Botschafterbesuches, die auch einige Gäste hinter vorgehaltener Hand bemerkten: Weingarten als Landratsnachfolger von Matthias Schneider? Als einer, der die Weltlage erklärt und jene duzt, die im Fokus des politischen Zeitgeschehens stehen, möge er doch vielleicht in Berlin unter anderem Mitglied des Verteidigungsausschusses bleiben ... Eine Personalentscheidung vonseiten der SPD soll noch in der laufenden Woche bekannt gegeben werden.
Aus 5000 Helmen wurden Waffen
Joe Weingarten machte deutlich: „Wir alle bezahlen einen Preis für diesen Krieg. Wir muten den Menschen viel zu, das ist mir bewusst. Die Corona-Jahre hätten schon gereicht. Davon hätte man sich eigentlich erst einmal erholen müssen. Aber es geht weiter: mit dem Krieg in der Ukraine, Klimakrise, Heizungsgesetzen ... Und es wird lauter werden – unter anderem durch militärische Übungen in der Region.“ Er sprach sich klar für eine militärische, wirtschaftliche und politisch umfassende Unterstützung der Ukraine aus, die man ja so vor Kriegsbeginn im Februar 2022 gar nicht „auf dem Schirm“ gehabt habe.
Für ihn besteht kein Zweifel: Die Ukraine werde EU-Mitglied und trete der NATO bei. Die EU sei wieder ein Erfolgsmodell: „Wenn die Ukraine nicht so einen hohen Preis zahlen müsste, wäre Putin der große Vereiner Europas. Russland hat den Krieg politisch schon verloren.“
Makeiev erläuterte optimistisch in makellosem Deutsch: „Zu Kriegsbeginn war die Ukraine eher in einer Tempo-30-Zone unterwegs, mittlerweile fahren wir im vierten Gang auf der Autobahn.“ Und das mithilfe von Deutschland: Aus 5000 Helmen am Anfang seien nun Waffen geworden, die Menschenleben retteten und die Ukraine im Kampf gegen den russischen Aggressor massiv stärkten: „Ich danke für diese Unterstützung. Wobei da durchaus noch Luft nach oben ist“, wie er mit einem Schmunzeln anmerkte. Als er im Herbst 2022 in seinem Umfeld berichtete, Botschafter in Deutschland zu werden, habe so mancher die Stirn gerunzelt. Aber jene „Zögerlichkeit“, die man mit Deutschland in seinem Land in Verbindung gebracht habe, sei so nicht mehr auszumachen.
Weingarten verspricht unbürokratische Hilfe für Ukrainer
Makeiev, bereits seit 1996 im diplomatischen Dienst, verwies auf die hohe Bedeutung, die Idar-Oberstein als Sitz der Artillerieschule im Krieg habe: „Ohne Idar-Oberstein hätte es die Befreiung bestimmter Gebiete nicht gegeben.“ In der Artillerieschule habe er sehr engagierte Ausbilder erlebt. Als Diplomat sei er mittlerweile unter anderem Waffenexperte, und er sei Storyteller: „Ich erzähle, wie ich diesen Krieg erlebe, mit einem Vater und einer Mutter, die in Kiew zu Hause sind.“ Ehrlichkeit sei die Basis für eine gute Partnerschaft mit Unterstützern.
Es gebe keine zivile Luftfahrt mehr in seinem Land, keine weißen Streifen wie hier am Himmel: „Ich würde mich freuen, dort mal wieder einen Lufthansaflieger zu entdecken.“ Und was ist, wenn der Krieg vorbei ist? Was heißt in diesem Zusammenhang, einen Krieg zu gewinnen? Und was kommt danach? „Die Deutschen haben Vergangenheitsbewältigung in ihrer DNA. Aber einen Kniefall wie 1970 von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Mahnmal für die Opfer des Aufstandes im Warschauer Ghetto werde es im übertragenen Sinne von russischer Seite wohl niemals geben.
Ukrainer meldeten sich zu Wort: Es gebe Probleme mit Pässen und Dokumenten. Weingarten versprach spontan unbürokratische Hilfe, wird einen Sprechtag in Absprache mit der Stadtverwaltung in seinem Idar-Obersteiner Büro organisieren, was Applaus der Gäste hervorrief. Nach dem Bürgerdialog stand der Botschafter, der betonte, sich in Idar-Oberstein sehr wohl gefühlt zu haben, auch noch für das eine oder andere Einzelgespräch in der Göttenbach-Aula zur Verfügung. Auch Selfies wurden geschossen, vorwiegend vonseiten der ukrainischen Gäste.