Aufsatz von Otmar Seul erinnert an die Separatistenzeit 1923/1924
Birkenfelder Republik im Jahr 1919: Beim Sturm aufs Idarer Rathaus gab es Verletzte
Ein Ölgemälde des zeitgenössischen Künstlers Hermann Becker-Rische erinnert an den Sturm des Idarer Rathauses am 12. November 1923. Das Originalbild hängt in der Idarer Volksbankfiliale. Foto: Hosser
Hosser

Kreis Birkenfeld. Es ist sozusagen die logische Fortsetzung seiner Forschungen zur kurzlebigen Birkenfelder Republik im Jahr 1919: Otmar Seul, einer der berühmtesten Söhne der Kreisstadt, hat sich in einem neuen Aufsatz dem ebenfalls nicht lang anhaltenden Zwischenspiel der separatistischen Bewegungen im oldenburgischen Landesteil Birkenfeld gewidmet. Dieser stand in jener bewegten Zeit – nämlich von Herbst 1923 bis Anfang 1924 – unter französischer Militärverwaltung.

Veröffentlicht wurden die Untersuchungen des emeritierten Professors der Universität Paris-Nanterre auf dem vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz betriebenen Internetportal www.regionalgeschichte.net. Wie gewohnt wertet Seul dabei auch Quellenmaterial aus französischen Archiven aus.

Ruhrkrise für Geschehen wichtig

Der frühere Landrat Axel Redmer hatte die bewegten Wochen des Separatismus im heutigen BIR-Kreis bereits in einem am 17. Januar 2023 in der NZ veröffentlichten Bericht beleuchtet und dabei besonders den Sturm auf das Rathaus in Idar am 12. November 1923 hervorgehoben. Seul nimmt in seinem neuen Aufsatz die lokalen Ereignisse ebenfalls in den Blick, erörtert aber darüber hinaus auch ausführlich die Rahmenbedingungen. Denn, so Seul: „Selbst lokal und begrenzte Entwicklungen wie im Birkenfelder Raum – sind ohne Kenntnis der Ruhrkrise und der geopolitischen Ambitionen Frankreichs im Jahre 1923 nicht nachvollziehbar.“

Er wende sich zudem gegen eine „allzu simplifizierte Lesart“, bei der eine Trennlinie zwischen einer Minderheit von „vaterlandslosen Gesellen“, die der französischen Besatzungsmacht zuarbeiten, und der großen Mehrheit der patriotisch eingestellten Bevölkerung gezogen werde. Angesichts politischer Unsicherheiten, einer desolaten Wirtschaftslage (Stichwort: Hyperinflation) und existenzieller Not sei vielen Rheinländern eine Annäherung an Frankreich als plausible Alternative erschienen, konstatiert Seul in seinem Aufsatz und ergänzt gegenüber unserer Zeitung: „Daher ist es wichtig, dem Leser wenigstens andeutungsweise die wirtschaftliche, soziale und politische Komplexität der frühen 1920er-Jahre zu vermitteln, in der der Separatismus gedeihen konnte.“

Der Autor weist zudem darauf hin, welche wichtige Rolle das Birkenfelder Land in den geopolitischen Überlegungen jener Zeit gespielt hatte. Denn die oldenburgische Exklave und andere Provinzen sollten in einem möglichen „Rheinischen Staatenbund“ (Confédération rhénane) den Status von unabhängigen Staaten mit lockerer konföderativer Struktur und einer gemeinsamen Außenvertretung erhalten. Diese Gedankenspiele wurden von Paul Tirard, dem in Koblenz residierenden Hochkommissar und Präsident der Interalliierten Rheinlandkommission, angestellt. Zur Debatte stand damals alternativ zudem, dass der oldenburgische Landesteil Birkenfeld als territoriale Einheit erhalten bleiben und als eigene Provinz in einen möglichen Pufferstaat, einen eng an Frankreich angelehnten „Rheinstaat“, integriert werden sollte.

Zu einer solchen Ausgliederung der linksrheinischen Gebiete aus dem Deutschen Reich kam es aber bekanntlich nicht. Die separatistische Bewegung scheiterte, weil sie nur eine „geringe Überzeugungskraft“ (Seul) entfaltete. Dafür machten die französischen Militärbesatzer „eklatante strategische, personelle und organisatorische Unzulänglichkeiten sowie einen Mangel an Geschlossenheit und Führung verantwortlich“, erklärt der Autor in seinem Aufsatz.

Mit dem schnellen Zusammenbruch der Bewegung fehlte Frankreich auch der entscheidende Aspekt, der die Forderung nach einem autonomen Rheinland begründet hätte – nämlich die Legitimation durch den Volkswillen. „Die tiefere Ursache für die Auflösung der Separatistenregierung ist in ihrem mangelnden Rückhalt in der Bevölkerung zu sehen“, stellt Seul vielmehr fest. Frankreich beschränkte sich in der Folge bis 1930 darauf, seine Besatzungstruppen auf die Rolle einer reinen Ordnungsmacht festzulegen.

Im oldenburgischen Landesteil Birkenfeld konnte Regierungspräsident Walther Dörr als Chef der Zivilverwaltung am 14. Januar 1924 wieder seine Dienstgeschäfte aufnehmen. Er war zuvor am 26. Oktober 1923 von den französischen Militärs in Person von Major Bastiani ins rechtsrheinische Gebiet ausgewiesen worden. Die kommissarische Leitung des Regierungspräsidiums wurde am 31. Oktober dem Oberamtsrichter Karl Nieten aus Nohfelden übertragen, der diese bis zur Rückkehr Dörrs zweieinhalb Monate innehatte.

Frankreich freundlich gestimmt

Vorangegangen waren turbulente Tage und Wochen: Nachdem bereits am 21. Oktober 2023 Separatisten in Aachen die „Rheinische Republik“ ausgerufen hatten, schwappte die Bewegung schnell auf weitere Gebiete über. Aus Birkenfeld wurden bereits am 23. Oktober 2023 öffentliche Kundgebungen gemeldet. Dörr stellte sich aber diesen separatistischen Aktionen – er bezeichnete deren Protagonisten laut Redmer als „Gesindel“ und ordnete am 24. Oktober 1923 Schutzmaßnahmen für öffentliche Verwaltungseinrichtungen vor. Dadurch sahen sich aber wiederum die französischen Militärbesatzer herausgefordert, die den Separatisten freundlich gestimmt waren.

Der Regierungspräsident habe „sich höchstpersönlich an die Spitze der Gegenkundgebungen gesetzt“ und trage damit „zur Störung der bislang im vollen Umfang gewährleisteten öffentlichen Ordnung bei“, ließ Tirard in einem Telegramm ans französische Außenministerium mitteilen. Deshalb verfügten deren Militärs verschärften Belagerungszustand und die Verhaftung sowie Ausweisung Dörrs an. Dieser Bannstrahl traf kurz darauf auch andere Beamte wie den Regierungsamtmann Schley oder den Idar-Obersteiner SPD-Lokalpolitiker Louis Cullmann, weil diese ebenfalls der „Rheinischen Republik“ die Gefolgschaft verweigert hatten. Cullmann war Vorsitzender des Landesausschusses, also der gewählten Volksvertretung der oldenburgischen Exklave gewesen. Diese hatte schon am Tag nach Dörrs Ausweisung mit einem Aufruf an die Bevölkerung appelliert, „sich nicht von außen beeinflussen und betören zu lassen und allen derartigen Versuchen energischen Widerstand zu leisten“.

Bewegung scheitert schnell

Die „Rheinische Republik“ war laut Seul am 30. Oktober 1923 in Oberstein und Birkenfeld sowie am 1. November 1923 in Baumholder ausgerufen worden. Die Beamten konnten in den besetzten Rathäusern aber weiter ihren Dienst versehen. Anders sah das in Idar aus. Dort stürmten Separatisten am 12. November das Rathaus. Dabei hätte man die Hissung der rheinischen Flagge aber gegen den Widerstand der Bevölkerung durchsetzen müssen: „Es kam zu mehreren Zusammenstößen auf der Straße, mit Leichtverletzten auf beiden Seiten“, berichtet der französische Oberstleutnant Gabriel Cochet.

Dieser wird Anfang Dezember in einem weiteren Schreiben in erster Linie den fehlenden Willen der Bevölkerung für das Scheitern der separatistischen Bewegung verantwortlich machen. Er lastet den Bürgern in der Region Trier einen Mangel an politischem Bewusstsein und ausgeprägter Autoritätshörigkeit an: „Die Massen sind vom Charakter her passiv und von der politischen Bildung her rückständig. Sie unternehmen keinen Schritt, ohne vorher ihren Bischof […] oder ihre Beamten zu fragen“, zitiert Seul ein Schreiben Cochets.

Generell, so der Autor, hätten sich die meisten führenden Vertreter der separatistischen Bewegung nach deren Zusammenbruch durch die Flucht nach Frankreich entzogen, um der Schmähung und Verfolgung zu entgehen. Im Birkenfelder Land hatte Otto Lengler als Separatistenkommissar fungiert. Dort habe man zwar auf einen neutralen, von Deutschland und Frankreich unabhängigen Zwischenstaat gesetzt, Lengler hatte aber unter anderem bei der Schlüsselfrage nach der Finanzierung eines solchermaßen angestrebten Rheinstaates keinerlei Lösungsansatz vorlegen können.

Stattdessen hatte Lengler nach der Proklamation der Rheinischen Republik am 30. Oktober 1923 in Birkenfeld erklärt, dass er „offen gestanden selbst nichts” wisse, und lediglich zugesichert habe, dass so weit wie möglich „alles beim alten bleiben” solle. Antworten wie diese hätten fatalen Auswirkungen auf seine Akzeptanz in der Bevölkerung gehabt, konstatiert Seul.

Was mit Lengler passiert ist, wird in seinem Aufsatz nicht erwähnt. Dafür fehle es aber nicht an Anekdoten über Kuriositäten aus der Separatistenzeit, betont Otmar Seul, der seit 1971 in Frankreich lebt und seit einigen Jahren an der Cote d’Azur wohnt. „An Komik nicht zu überbieten ist für mich beispielsweise Dörrs Mitteilung im Bericht an die oldenburgische Regierung, dass dem letzten Separatisten beim Verlassen des Regierungsgebäudes von den Beamten ,das Reisegeld‘ zugesteckt wurde. Ist das nicht ein typisch ,deutsches‘ Prozedere?“, fragt Seul schmunzelnd.

Otmar Seuls Aufsatz „1923: Separatismus im oldenburgischen Landesteil Birkenfeld unter französischer Militärverwaltung im Spiegel französischer Quellen“ ist in voller Länge im Internet unter www.1914-1930-rlp.de/index. php?id=24010 veröffentlicht.

Von Axel Munsteiner

Top-News aus der Region