NZ-Serie „Nach Kriegsende“
Begehrte Persilscheine halfen bei der Entnazifizierung
Wenige Monate vor dem Ende der Entnazifizierung wurde im März 1950 dem jungen Idarer Lehrer Richard S., der bei Kriegsende gerade einmal 17 Jahre alt war und an der Marktschule in Idar unterrichtete, vom Landeskommissar für die politische Säuberung in Rheinland-Pfalz mitgeteilt, dass das „politische Verfahren“ gegen ihn aufgrund einer Jugendamnestie eingestellt worden sei.
Archiv Redmer

Wie sollte aus einem Volk, das seinem Führer zwar nicht für tausend, aber immerhin für 12 Jahre ohne groß nachzudenken hinterherlief, aufrichtige Demokraten werden. Vor diesem Problem standen 1945 die Besatzungsmächte – auch im Kreis Birkenfeld.

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Bis in die letzten Kriegstage hinein hatte ein Großteil der Deutschen dem nationalsozialistischen Regime die Treue gehalten. Noch im Sommer 1944 war es der NSDAP leichtgefallen, in Idar-Oberstein, Vollmersbach, Niederwörresbach und anderen Orten des Kreises Birkenfeld große Menschenmengen zu mobilisieren, die ihre ungebrochene Hingabe an den „Führer“ zum Ausdruck brachten. Bezeichnenderweise wurde bei diesen Versammlungen die Vernichtung der Widerstandskämpfer um den Hitler-Attentäter Graf von Stauffenberg gefordert.

Angesichts dieser „Nibelungentreue“ zu einem Diktator und Massenmörder sahen die Alliierten nach der bedingungslosen Kapitulation des Dritten Reichs in einer konsequenten Entnazifizierung den einzig gangbaren Weg zu einem demokratischen und friedfertigen Deutschland, das nicht mehr danach tracht, seine Nachbarn zu überfallen und Völkermord zu begehen.

Ungehalten reagierte Literaturnobelpreisträger Thomas Mann, den die Nazis Ende 1936 ausgebürgert hatten, angesichts des millionenfachen Mordes an den Juden auf das Unverständnis seiner ehemaligen Landsleute hinsichtlich der Entnazifizierungsüberlegungen der Alliierten: „Und da wundert ihr Deutschen euch, entrüstet euch sogar darüber, daß die zivilisierte Welt beratschlagt, mit welchen Erziehungsmethoden aus den deutschen Generationen, deren Gehirne vom Nationalsozialismus geformt sind, aus moralisch völlig begrifflosen und mißgebildeten Killern also, Menschen zu machen sind?“

Franzosen gingen pragmatisch vor

Bereits im Dezember 1944 hatte das SHAEF (Oberkommando der Alliierten Expeditionsstreitkräfte) ein Handbuch verfasst, in dem beschrieben wurde, wie die Ausschaltung der Nazis umgesetzt und der Aufbau einer demokratischen Gesellschaft in Deutschland erreicht werden könnten. Ausdrücklich machten sich die Franzosen diese Anleitung zu eigen. Doch während die USA ihre Vorgaben für die geplante Entnazifizierung im Laufe des ersten Halbjahres 1945 verschärften und von einem gewissen Sendungsbewusstsein beseelt waren, agierten die Franzosen pragmatischer. Im Kreis der vier Alliierten forderten sie zwar strengere Entnazifizierungsregeln, in der Praxis handelten sie hingegen nach der Devise, wer sich mit ihnen arrangiere, der sei grundsätzlich willkommen, selbst wenn er in den Nationalsozialismus verstrickt gewesen sein sollte.

Vorrangiges Ziel der alliierten Entnazifizierungspolitik war es, die NSDAP samt ihrer Unterorganisationen zu verbieten und alle NS-Gesetze aufzuheben. Beseitigt wurden nationalsozialistische Alltagsspuren, was zur Änderung von Straßennamen und dem Verbot von NS-Fahnen, -Uniformen, -Orden sowie -Literatur führte. Diejenigen, die die Verbrechen des Dritten Reichs ermöglicht oder gefördert hatten, galt es im öffentlichen Leben und der Privatwirtschaft auszuschalten; zugleich wurden antifaschistische Kräfte gestärkt.

Unmittelbar nach Besatzungsbeginn startete – mit massenhaften Internierungen – die Entnazifizierung der vermeintlich wichtigsten lokalen und regionalen NSDAP-Funktionsträger. Die örtliche Einheit des US-Geheimdienstes sperrte zunächst auf der Hohl und dann in der Algenrodter Straßburgkaserne unabhängig von persönlichen Verfehlungen NSDAP-Funktionäre und leitende Beamte ein. Diese Praxis traf vor allem Kommunalpolitiker, Ortsgruppenleiter, SS- und SA-Führer sowie Behördenleiter. Mangels hinreichender Kenntnisse der örtlichen Gegebenheiten und personellen Verflechtungen erfolgten anfangs viele Verhaftungen willkürlich. Da ihnen außerdem keine systematischen Voruntersuchungen vorausgingen, kam es zwangsläufig zu Ungerechtigkeiten.

Zunächst kam es zu willkürlichen Verhaftungen

Die Franzosen änderten an dieser Praxis wenig und stellten zudem nicht genügend Personal bereit – schon gar nicht mit deutschen Sprachkenntnissen –, um zeitnah klären zu können, wer zu Recht oder zu Unrecht interniert worden war.

Wenn auch die Haft in den Lagern belastend war, kamen etliche Gefangene entgegen der öffentlichen Wahrnehmung letztlich mit vergleichsweise geringen Sanktionen davon, weil über sie erst entschieden wurde, als die zuständigen Spruch- und Strafkammern nach 1946 deutlich milder gestimmt waren als zu Beginn der Entnazifizierung und die verbliebenen Gefangenen außerdem in den Genuss von Amnestien kamen.

Parallel zu den Internierungen entfernten die Amerikaner in großem Stil NSDAP-Mitglieder aus dem öffentlichen Dienst. Besonders stark machte sich diese „Säuberung“ in den Kommunalverwaltungen, im Schulbereich und in der Justiz bemerkbar, aber auch Versorgungsbetriebe wie OIE, Post und Bahn wurden vorübergehend in ihrer Handlungsfähigkeit extrem eingeschränkt, weil das Führungspersonal interniert war.

Rasch erkannten die Franzosen, dass die pauschale Ausgrenzung aller ehemaligen NSDAP-Mitglieder den staatlichen Wiederaufbau übermäßig behinderte. Im Sommer 1945 lehnten sie die von den Amerikanern betriebene Entlassung aller Beschäftigten des öffentlichen Dienstes, die vor 1937 in die NSDAP eingetreten waren, als kontraproduktiv ab. Stattdessen entwickelten sie eine eigenständige Entnazifizierungspraxis und entschieden sich für Einzelfallprüfungen. Dies verursachte zwar weitere Verfahrensverzögerungen und ließ Spielraum für Korruption, sorgte jedoch zugleich dafür, dass Kreis-, Stadt- und Amtsverwaltungen ab Herbst 1945 ehemalige NSDAP-Mitglieder zurückholen durften und der Schulbetrieb endlich wieder aufgenommen wurde.

Schulbetrieb wurde endlich wieder aufgenommen

Bis 1947 erreichten die Franzosen mit ihrer differenzierten Vorgehensweise immerhin Kontinuität bei der Entnazifizierung. Endlich kam es zum beschleunigten Abbau der Gefangenenzahlen. Minderbelastete Häftlinge wurden freigelassen, hatten sich aber an ihrem Wohnsitz der Entnazifizierung zu stellen. Frei kamen auch diejenigen, deren Internierungszeit schon länger währte als die Freiheitsstrafe, die ihnen im Falle einer strafgerichtlichen Verfolgung drohte. Alles in allem ging das in Rheinland-Pfalz wesentlich langsamer vonstatten als in anderen Ländern der französischen Besatzungszone.

Im Laufe des Jahres 1946 übernahmen Franzosen und Engländer das von den Amerikanern ausgearbeitete Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus. Daraufhin wurden Laiengerichte als Spruchkammern eingerichtet, die ein Volljurist leitete, dem zwei Beisitzer, die mit den lokalen Gegebenheiten vertraut sein sollten, zur Seite standen. Die Entscheidungen der Spruchkammer dienten der politischen Säuberung und Wiedergutmachung und erfolgten unbeeinflusst von möglichen Strafverfahren. Umstritten war die Beweislastumkehr, die für die Verfahren galt: Den Betroffenen musste kein Fehlverhalten nachgewiesen werden, vielmehr hatten diese den Nachweis ihrer Unschuld zu führen.

Große Schwierigkeiten bereitete die Besetzung der Spruchkammern. War es schon problematisch genug, unbelastete Juristen als öffentliche Kläger zu finden, entzogen sich unbescholtene Bürger häufig der Aufgabe, über ihre belasteten Mitbürger zu urteilen. Aus Birkenfeld meldete der Landrat: „Mancher scheut sich, der Öffentlichkeit gegenüber diese Verantwortung zu übernehmen.“

Wahl 1948: 130 Männer und 31 Frauen waren ausgeschlossen

Nicht alle Entnazifizierungsverfahren endeten mit mündlichen Verhandlungen. Meist wurde im schriftlichen Verfahren entschieden. Am Ende erfolgte die Zuteilung in Hauptschuldige, Kriegsverbrecher, Minderbelastete, Mitläufer oder Entlastete. Hauptsanktionen waren die Entlassung aus dem Dienst oder ein Berufsverbot bzw. das Verbot politischer Betätigung, dazu gehörte die Aberkennung des aktiven oder passiven Wahlrechts und das Verbot, sich einer politischen Partei anzuschließen. Häufig wurden Geldbußen ausgesprochen. Bei der Stadtratswahl am 14. November 1948 waren in Idar-Oberstein 130 Männer und 31 Frauen als Folge der Entnazifizierung von der Wahl ausgeschlossen, einige zeitlich, andere sogar unbefristet. Nach dem Ende der Entnazifizierung erhielten alle in den 1950er-Jahren wieder das volle Wahlrecht.

Um eine Grundlage für die Entscheidungsfindung der Spruchkammern zu erhalten, mussten alle volljährigen Personen einen 131 Fragen umfassenden Bogen ausfüllen. Prompt kam es dabei zu falschen Angaben. Wer immer dabei auffiel, musste seitens der Franzosen mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Im benachbarten Saarland, das wie der Kreis Birkenfeld zur französischen Zone gehörte, kam es 1947 zu Verfahren gegen 2400 Fragebogenfälscher.

Um sich nicht der Gefahr einer Freiheits- oder Geldstrafe auszusetzen, schien es vielen Verdächtigen erfolgversprechender zu sein, sich von unbescholtenen Bürgerinnen und Bürgern eine schriftliche Erklärung geben zu lassen, in der ihnen bescheinigt wurde, dass sie sich, abgesehen von ihrer NSDAP-Mitgliedschaft, stets untadelig verhalten hätten. Damit sollte wenigstens der Status eines Mitbelasteten oder Mitläufers erreicht werden. Vor allem in ländlichen Regionen wie dem Kreis Birkenfeld, wo jeder jeden kannte und kaum jemand die Ortsgemeinschaft spalten wollte, war diese Vorgehensweise gängige Praxis. Bauern, Unternehmern und Wohnungseigentümern, die die Entlastungsbereitschaft ihrer Mitbürger durch Nahrungsmittel, Arbeitsplätze oder Wohnraum fördern konnten, fiel es leicht, an die sogenannten „Persilscheine“ zu gelangen, mit denen sie reingewaschen werden wollten. Weil diese Vorgehensweise ihre Wirkung nicht verfehlte, wurden die Spruchkammern schon bald als „Mitläuferfabriken“ verhöhnt.

Noch Jahre später amüsierten sich der SPD-Kreistagsfraktionsvorsitzende Paul Willrich sowie andere Kommunalpolitiker und Gewerkschafter, wie sehr sie von denjenigen, die ihnen vor 1945 am liebsten KZ-Haft gewünscht hätten, bedrängt worden waren, entlastende Stellungnahmen abzugeben.

Bundestag beschließt Ende der Entnazifizierung

Nicht zuletzt wegen ihrer offenkundigen Mängel und Ungerechtigkeiten endete im Dezember 1950 die Entnazifizierung, die die Alliierten zunehmend deutschen Stellen übertragen hatten, per Bundestagsbeschluss. Wer zu diesem Zeitpunkt noch eine Strafe zu verbüßen hatte, wurde amnestiert.

So problematisch der Versuch gewesen sein mag, mehrere Millionen NSDAP-Mitglieder zu entnazifizieren und so umfassend die schrittweise Rückkehr der Betroffenen in den öffentlichen Dienst ab 1946 auch ausfiel, folgenlos war die ambitionierte Entnazifizierung durch die Alliierten aus heutiger Sicht nicht. Sie trug unbestreitbar dazu bei, dass sich der überwiegende Teil der Gesellschaft vom Nationalsozialismus abkehrte und es über Jahrzehnte hinweg nicht mehr opportun war, offen für die NS-Kriegsverbrechen und den Völkermord an den europäischen Juden Partei zu ergreifen. 

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