Unsere Zeitung hat im Januar dieses Jahres über die Suche des Düsseldorfers Dieter Petzold nach „Anne“ aus der Region Birkenfeld, die er in Brighton kennenlernte, berichtet. Verknüpft war die Suche auch in unserer Zeitung mit dem Aufruf sich zu melden, wenn „Anne“ auf den Bildern, die Petzold zur Verfügung gestellt hat, erkannt würde. Der Aufruf war erfolgreich, doch die Suche endet tragisch.
Im Sommer 1969 macht der damals 19-jährige Petzold sich mit drei Freunden auf den Weg nach Brighton in England - der erste große Urlaub ohne die Eltern. Dort trifft er eine junge Frau, 17 Jahre alt, die sich ihm als „Anne“ vorstellt - sie verbringen schöne, teils romantische Tage gemeinsam in der englischen Küstenstadt. Später wieder zu Hause in Deutschland schicken die beiden sich Briefe, „Anne“ schickt auch Fotos von sich, auf der Rückseite findet sich der Vermerk des Fotografen- ein Fotostudio aus Birkenfeld. Der Kontakt ebbt über die Zeit ab, die Urlaubsbekanntschaft wird für Petzold zur fernen Erinnerung. Als ein guter Freund Petzolds, der auch in Brighton dabei war, 2023 stirbt, kramt er in alten Kisten und findet auch die Fotos von Anne. „Es wäre schön, sich mit ihr noch einmal austauschen zu können, Erinnerungen abzugleichen“, hofft Petzold und versucht „Anne“ ausfindig zu machen.
„Das letzte Bild von meiner Schwester“
Kurze Zeit, nachdem die Geschichte dieser Suche in unserer Zeitung veröffentlicht wurde, meldet sich Wolfram Ermel aus Nohfelden: „Das auf den Bildern ist meine Schwester Annerose Ermel“, teilt er mit. Wolfram Ermel sendet unserer Zeitung einige Bilder seiner älteren Schwester: Annerose, wie sie sich an der Tür eines Lkw festhält, Annerose, die mit Schulfreundinnen vom Gymnasium Birkenfeld, das sie besuchte, posiert. Direkt ist klar: Die von Petzold gesuchte „Anne“ ist Annerose Ermel aus Nohfelden. Doch angehängt sind auch weitere Fotos. Das Bild der 26-jährigen Annerose, wie sie lächelnd nach unten schaut - beschriftet mit dem Satz, „das letzte Bild von meiner Schwester“, ein Foto eines komplett zerstörten Autos, das Bild eines Grabsteins, auf dem der Name „Anne Ermel“ steht.

Denn Annerose Ermel starb am 27. Oktober 1978 mit 26 Jahren, kurz nach ihrem zweiten juristischen Staatsexamen am Oberlandesgericht Celle, nur neun Jahre nach dem Aufenthalt in Brighton, bei dem sie Dieter Petzold begegnete. Auf der A7 in Höhe Kassel wird ihr im Stau stehendes Auto von hinten gerammt, 20 Stunden später verstirbt sie im Krankenhaus Kassel. Sie hatte ihr Zimmer in Hannover aufgelöst, kleinere Möbel waren noch im Kofferraum untergebracht. Annerose war auf dem Weg zurück nach Nohfelden, wo sie eine Anwaltspraxis eröffnen wollte - näher an ihrem kleinen Bruder, näher an den Freunden aus Kindheit und Jugend.
„Ich habe mich trotzdem sehr gefreut, als ich den Artikel in der Zeitung gesehen habe, gefreut, dass sich auch nach so vielen Jahren noch Menschen an meine Schwester erinnern“, sagt Wolfram Ermel. „Annerose hat mir sehr viel bedeutet, mich praktisch großgezogen und meinen Werdegang bestimmt. Ich habe Annerose alles zu verdanken. Ich möchte die kurze, aber bewegte Lebensgeschichte dieser wunderbaren Frau erzählen.“
Sprachkurse und Au-Pair-Dienste als Ticket in die Welt
Annerose wurde 1952 im saarländischen Nohfelden geboren, im Untergeschoss ihres Elternhauses betrieben die Großeltern die Bäckerei Ernst Müller, ihr Vater war Besitzer einer Konservenfabrik in Nohfelden. Hier müssen Annerose und auch Wolfram Ermel oft aushelfen. „Annerose hat das ganze Jahr über dort geschafft, entweder am Fließband oder im Büro“, erzählt Kindheitsfreundin Ursula Chemin. „Ich erinnere mich noch genau, schon in der dritten Klasse hat Annerose ihre Hausaufgaben am Fließband erledigt und auch auf das Telefon aufgepasst“, erzählt die Jugendfreundin. Später habe Annerose die Firma praktisch geführt, sagt Ermel. „Mein Vater hat bei allen wichtigen Entscheidungen auf sie gehört.“ Mit dem Laster der Fabrik fährt Annerose durch das Saarland, durch ganz Deutschland, um Konserven abzuliefern und Rohstoffe zu besorgen.

Annerose besucht das Gymnasium in Birkenfeld, spielt in Idar-Oberstein Handball und ist Mitglied im Musikverein Sötern, wo sie auf der Flöte und dem Horn musiziert. „Ich hatte manchmal das Gefühl, meine Schwester kann alles. Was sie sich in den Kopf gesetzt hat, hat sie auch durchgezogen“, blickt Ermel zurück.
„Annerose hat Musik geliebt, hat Konzerte unter anderem von The Kinks und von Marmelade in der ganzen Welt besucht“, erinnert sich Ingrid Hub, die Annerose, wie auch Chemin, seit der Grundschule kannte und eng mit ihr befreundet war.

Denn schon in jungen Jahren habe die Nohfelderin das Reisen geliebt. „Sprachkurse, wie der, den sie 1969 in Brighton besucht hat, waren ihr Ticket in die Welt - eine Reisemöglichkeit, die unser Vater auch erlaubt hat, eigentlich sollten wir ja in der Fabrik arbeiten“, erzählt Ermel. Annerose sei jedes Jahr auf Reisen gewesen, erzählt Hub. „Als Au-pair in Paris oder Spanien, mehrmals kam sie als Sprachschülerin bei einer Familie in Brighton unter, auch in Norwegen war sie unterwegs, lernte dort einen Jungen namens Tore kennen, in den sie total verschossen war.“ Dabei sei die junge Frau mit Fernweh anderen Menschen gegenüber immer offen gewesen. „Annerose war ein sehr kommunikativer Mensch und konnte gut mit Leuten, jeder hat sie gemocht, deswegen hat sie auch bei ihren Reisen viele verschiedene Menschen kennengelernt und manche verzaubert“, sagt Hub mit einem Lächeln.
„Freunde bleiben wir immer“
„Einmal hat sie sich für drei Monate nach Paris abgesetzt, da musste mein Vater sie wiederholen und zurück zur Schule nach Birkenfeld schleppen“, erzählt Ermel mit einem Lachen auf den Lippen. „Ich selbst habe mich nie so viel getraut wie meine Schwester, dafür hab ich sie immer bewundert.“
Annerose sei immer unterwegs gewesen, aber habe ihre Freunde dabei nie vergessen, fügt Hub hinzu. „Sie hat mir immer viele Briefe geschrieben, seitenweise. Ich habe sie alle aufgehoben. Ich wusste immer, welchen Freund sie in welchem Land hat. Auch den jungen Petzold, den ’Süßen aus Düsseldorf’, hat sie mal erwähnt.“ Ein wenig eifersüchtig sei Hub schon manchmal gewesen, verrät die Jugendfreundin. „Aber wenn ich ihr das erzählt habe, sagte sie nur: ’Ach Ingrid, egal wo ich bin, Freunde bleiben wir immer´.“

Annerose sei diese Art von Person gewesen, die immer für andere da war, sagt ihr Bruder. „Sie hat mich nicht nur großgezogen, weil unsere Eltern und Großeltern mit der Bäckerei und der Fabrik immer beschäftigt waren, sondern auch vor der Bundeswehr bewahrt“, erinnert sich Ermel. „Sie hielt das für vergeudete Zeit, ich sollte lieber was Sinnvolles mit meinem Leben anstellen.“ So brachte Annerose den 16-jährigen Wolfram damals nach Berlin, meldete dort einen Wohnsitz für ihn an. „Mit 16 wurde ich also Berliner.“ Während der Teilung Deutschlands unterlagen Bürger von Berlin (West) nicht der Wehrpflicht.

Annerose und ihr jüngerer Bruder teilten viele Interessen, wie das für Autos. Sie besaß einen Citroën 2CV, einen Alfa Romeo, das Auto, in dem sie später gestorben ist, und einen Golf GTI. Noch heute sammelt Ermel Oldtimer, zahlreiche Autos aus den Jahren 1933 bis 1990 besitzt der Informatiker mit Doktortitel. „Vielleicht kaufte ich so viele Autos, weil mich das an meine Schwester erinnert“, sagt er.
Wie an Anneroses Tod die Familie zerbrach
Doch nicht nur die Leidenschaft für schnelle Motoren ist für eine junge Frau ihrer Zeit ungewöhnlich. „Annerose war schon ein bisschen verrückt, aber im positiven Sinne. Sie war immer die Antreiberin für die ausgefallensten Ideen“, sagt Hub. Als sie gerade ihren Führerschein gemacht habe, habe sie Hub und Chemin eingepackt und auf dem Weg zur Disco jeden Tramper mitgenommen. „Wir waren am Ende 20 Leute in einem Lieferwagen und kannten keinen davon wirklich“, sagt Hub und muss dabei schmunzeln.
„Sie hatte ein Herz für Tramper, ist ja selbst oft getrampt“, erzählt Chemin. Gemeinsam mit Chemin sei Annerose zum Beispiel 1970 von Hermeskeil nach Brighton getrampt. „Das war natürlich auch ihre Idee, sie hat auf mich aufgepasst, und ohne sie hätte ich mich das auch nicht getraut.“
Doch das Leben dieser jungen, aufgeweckten und kontaktfreudigen Frau endet im Oktober 1978 abrupt. Auf der A7 bei Kassel sei ein anderer Verkehrsteilnehmer beim Spurwechsel mit Höchstgeschwindigkeit in Annerose gerast, die im Stau stand. „Es hat drei Stunden gedauert, bis Annerose in das nächstgelegene Krankenhaus in Kassel eingeliefert wurde, ich hoffe, sie hat dort schon nichts mehr mitbekommen“, sagt Ermel, und seine Augen schimmern feucht. Zu Hause in Nohfelden bekommt Familie Ermel einen Anruf und fährt in das Krankenhaus nach Kassel. „Mutter hat geweint, Vater war fix und fertig.“ Weil Annerose eingetragene Organspenderin ist, muss die Familie lange warten, bis sie die Leiche mit nach Hause nehmen dürfen. „Natürlich war Annerose Organspenderin, sie war immer für andere da“, ergänzt Hub ebenfalls mit dem Anflug einer Träne in den Augen. „Ihr Tod war das Ende unserer Familie“, sagt Ermel. Aufgrund der langsamen Reaktion der Rettungskräfte, aufgrund des unachtsamen Rasers stößt die Familie im Nachgang ein Gerichtsverfahren an - „um genau herauszufinden, wie dieser tragische Unfall zustande kam“, sagt Ermel. Wolfram Ermel wandert 1985 in die USA aus, kapselt sich von Nohfelden und den Erinnerungen ab, bis er vor wenigen Jahren zurückkommt, um das Erbe seiner Eltern zu regeln.

Düsseldorfer sucht Urlaubsbekanntschaft aus Birkenfeld
1969 traf der 19-jährige Dieter Petzold aus Düsseldorf eine junge Frau namens Anne aus der Region Birkenfeld im britischen Brighton. Der Kontakt ging verloren. Nun will er erfahren, was aus ihr geworden ist.
Seitdem er wieder in Nohfelden wohnt, feiern der kleine Bruder und die Kindheits- und Jugendfreunde Anneroses an jedem 9. März gemeinsam ihren Geburtstag. „Für uns ist ihr Tod bis heute ein Schock“, sagt Hub, die mittlerweile in Kirschweiler wohnt und das Bild von Annerose als erste in der Zeitung entdeckte.

„Ich konnte es kaum fassen, als sie mir von der Seite entgegenblickte.“ Petzold will die Fotos, die er von Annerose besitzt, an ihre Freunde und Familie schicken. „Es ist sehr schade, dass ich diese offensichtliche Powerfrau nicht noch einmal sprechen konnte, aber mit der Rücksendung der Fotos schließt sich für mich auch ein Kreis“, sagt er.