Rückweiler/Danzig. Im vergangenen September ist Joachim Schroetter 84 aus Rückweiler geworden, und er hat seine Erinnerungen an die Flucht im Jahr 1945 von Danzig bis nach Niedersachsen niedergeschrieben. Noch im Januar 1945 führte der Weg den damals Vierjährigen mit seiner schwangeren Mutter, der Großmutter und den älteren Brudern zum Hafen von Gotenhafen (Gdingen) in der Danziger Bucht. Mit wenigem Handgepäck, das ihnen wichtig war und sie tragen konnten, machten sie sich auf den Weg, berichtet Joachim Schroetter: „Es war sehr kalt.“
An Minen vorbei zum Danziger Hafen
Schroetter musste Abschied von den Eisblumen am Küchenfenster und auch von seinen Spielsachen nehmen. Durch die schneebedeckten Flächen ging es los. „Trete genau in meine Fußstapfen, es ist überall vermint“, hatte seine Mutter gesagt und ihn an die Hand genommen. Das verstand er nicht. Auch die anderen Zusammenhänge und Begriffe verstand er damals nicht. Er spürte nur, dass etwas Schlimmes vor sich ging. Am Hafen wimmelte es von Menschen, Tieren und Mobiliar. Auch die „Wilhelm Gustloff“, das Schiff der Hoffnung, lag dort an der Mole. Die „Wilhelm Gustloff“ und weitere Schiffe, die in der Danziger Bucht lagen, sollten sie und viele Flüchtlinge in die Freiheit und Sicherheit bringen. Darauf hofften alle. Aus dem Volksempfänger immer wieder zu hören war: „Nie würde ein Bolschewist Danziger Boden betreten, dafür würde die glorreiche deutsche Armee sorgen.“ Doch die Menschen konnte man nicht täuschen. Alle am Hafen hofften darauf, bald gerettet zu werden. Die Hoffnung, dass der Krieg gewonnen würde, hatten sie aufgegeben. Es ging nur noch um das nackte Leben.

„Wir hörten, dass diese Menschen aus den deutschen Ostgebieten bereits einen langen, beschwerlichen und vor allen Dingen gefährlichen Fluchtweg hinter sich hatten. Sie hatten alles verloren“, schildert der heute 84-Jährige. Die Danziger Bucht war für viele der Ort der letzten Hoffnung. „Alle wollten raus“, berichtet er weiter. Das verstand er auch schon als Vierjähriger. Das Vieh, vor allen Dingen Kühe, um die Kleinkinder mit Milch zu versorgen, durfte nicht auf die Schiffe, weil die Kapazitäten nicht ausreichten. „Bei der Großmutter war beim Anblick der „Wilhelm Gustloff“ keine Hoffnung und Zuversicht spürbar. Sie schaute entsetzt auf das Schiff, das uns in die Freiheit bringen sollte“, erinnert er sich – und weigerte sich, auf das Schiff zu gehen.
Statt Flucht per Schiff ging es zurück
Die Konsequenzen, die sich daraus ergaben, verstand er als Junge nicht. Er hegte nur die Hoffnung, seine Spielsachen bald wieder in der Hand zu haben. Und so ging es durch den verschneiten Weg zurück, vorbei an den Minen. Es ging gut, doch die Wohnung war zerstört. Sie lebten getrieben von der Hoffnung und der ständigen Angst. Die Zwangsaufenthalte im Luftschutzbunker kamen immer öfter und dauerten länger. Sie waren in Danzig gefangen. Seine Mutter war damals schwanger. Das Kind sollte etwa im Juli 1945 noch in Danzig zur Welt kommen. Vor der Geburt wäre die Flucht über den Landweg sehr beschwerlich gewesen. Doch auch mit einem Baby würde es sehr beschwerlich und gefährlich werden. Sie wären dann zu fünft gewesen und mussten jeden Tag etwas zum Essen haben. Ein kleiner Bruder kam zur Welt. Doch er starb kurz nach der Geburt, berichtet Schroetter. 14 Tage nach der Geburt wurde die Wohnung von der polnischen Miliz beschlagnahmt. Sie wurden ausgewiesen und machten sich mit wenigem Handgepäck auf den Weg nach Westen. Sie wollten nach Niedersachsen, dort wohnte die Tante.

Es ging über Felder und Wege von Dorf zu Dorf. Sie merkten bald, dass sie sich ohne Gefahr nur nachts auf den Weg machen konnten, denn es gab immer noch Partisanen, die auf die Flüchtlinge Jagd machten und sie niederschlugen und ausraubten. Wenn man Glück hatte, ergatterte man einen Quartierschein, um vorübergehend ein Quartier zu erhalten. Sie zogen von Pommern in Richtung Berlin und bis an die Elbe. Am Fluss stießen sie auf einen Benzinkanister, in den der Reichsadler eingeprägt war, mit dem sie als Floß ans andere Ufer kommen könnten. „Wir lassen uns im Fluss treiben, die Kanister schwimmen ja und kommen so gewiss auf die andere Seite“, meinte der ältere Bruder. Das war alternativlos. Schließlich ließen sie sich treiben, ohne zu wissen, wo der richtige Weg war. Sie hatten Glück und erreichten die andere Seite. Das Floß blieb an einer Baumwurzel nahe dem Ufer hängen, und sie konnten auf die andere Seite gehen.

Plötzlich standen zwei Soldaten vor ihnen. „Stopp“, hörten sie, konnten aber sonst nichts verstehen. Es war englisch. Sie waren in der britisch besetzten Zone. Sie folgten den Soldaten. Kurze Zeit später erreichten sie einen Militärtransporter mit laufendem Motor, der sie in ein Lager brachte. Kurz vor Weihnachten 1945 ging es vom Auffanglager Pöppendorf aus mit dem Zug nach Otterndorf an der Niederelbe.
Und nach einer langwierigen Flucht über den Landweg fanden sie in Otterndorf an der Niederelbe nach einer Zwangseinweisung eine neue Heimat, in der sie nicht mehr Hunger leiden mussten. Dass der Krieg in der Zwischenzeit beendet war, wussten sie nicht. Der Vater war bei Bederkesa in britische Gefangenschaft geraten und wurde kurze Zeit später auch nach Otterndorf entlassen. „Wir waren wieder eine Familie“, erinnert sich Joachim Schroetter, und der Junge vergaß schnell die todbringenden Geräusche der Stalinorgeln und den dunklen Luftschutzbunker. Die Wege, die er mit seinen Eltern und Geschwistern gegangen war, sind heute nur noch Wege der Erinnerungen.
Ein Gedicht zur Erinnerung
Reale Wege führten uns zum Glück. Nach Westen, jeden Tag ein Stück.
Obwohl es sehr beschwerlich war, und überall lauerte Gefahr.
Erreichten wir nach einem Jahr, noch unbekannt, neues gelobtes Land.
Der Weg führte uns ins Paradies, obwohl der Ort Otterndorf hieß.
Zur Hoffnung und ein wenig Glück, die Heimat kehrt nicht mehr zurück.
Eingewöhnung viel recht leicht, den Frieden hatten wir erreicht.
Der Friede, oft bezahlt mit Blut, ist des Menschen höchstes Gut.
Diesen Zustand zu erhalten, müssen Menschen fest gestalten.
Doch wo ist der rechte Weg, wo man diese Absicht hegt.
Leider kommt die Humanität, im Leben oft viel zu spät.
Vielleicht besinnen, von vorn beginnen.
Indes die Friedenstaube fliegt und fliegt, denn auf der Welt ist immer Krieg.