Die Wirklichkeit sah allerdings teilweise erheblich anders aus. Das neue Edikt, Teil der umfassenden Reformen nach der preußischen Niederlage bei Tilsit, galt nur für die Juden, die in den zu diesem Zeitpunkt zu Preußen gehörenden Territorien lebten. Es galt nicht beispielsweise für diejenigen, die im Rheinland lebten, das erst vom Wiener Kongress Preußen zugesprochen wurde. Hier wurden stattdessen immer wieder die napoleonischen Dekrete von 1808 verlängert. Sie sollten einerseits die Integration der Juden in die bürgerliche Gesellschaft fördern, griffen aber andererseits gravierend in das Leben der jüdischen Gemeinden ein, unter anderem durch die Begrenzung der bisher geltenden Freizügigkeit, durch Überwachung und Konzessionierung der Handelstätigkeit und Einschränkungen beim Versuch, Forderungen von Juden gerichtlich geltend zu machen.
Der große Teil der jüdischen Bevölkerung lebte, trotz zunehmend gesetzlich festgeschriebener Emanzipation, als Minderheit weiterhin eher am Rand der Gesellschaft und verdiente seinen oft nicht gerade üppigen Lebensunterhalt wie schon über Jahrhunderte hinweg nicht in bürgerlichen Berufen, sondern als Geldverleiher oder Kleinhändler. Nicht umsonst geben die Grabinschriften vieler Männer auf dem jüdischen Friedhof in Dierdorf, einem von zehn noch zumindest in Teilen erhaltenen, unterschiedlich großen jüdischen Friedhöfen im Kreis Neuwied, auch noch im 19. Jahrhundert als Beruf den des „Handelsmanns“ oder „Kaufmanns“ an. Dies unterstreicht anschaulich die verdienstvolle, von Michael Mayer, seit Langem für die Erforschung der Geschichte der jüdischen Gemeinden in Dierdorf und den benachbarten Orten engagiert, vorgelegte Dokumentation „Haus des Lebens – Der jüdische Friedhof in Dierdorf“. Dabei geht es um den neuen, 1846 aus Platzgründen unter dem damaligen Gemeindevorsteher Salomon Salomon in der Nachbarschaft des seit 1746 genutzten alten Friedhofs, angelegten neuen Friedhof. Hier sind, anders als beim alten Teil, noch 107 Grabsteine erhalten.
Eine der spärlichen Ausnahmen, die, laut Grabinschrift, nicht Händler waren, ist der 1855 im Alter von nur 35 Jahren gestorbene Israel Israel, als dessen Beruf die auch hier einem festen Schema folgende, teilweise formelhafte Grabinschrift den des „Lehrers“ nennt. „Hier ruht, ein geradliniger Mann, der fürchtete Gott, der Lehrer und Vorbeter der Synagoge, mehr als viele andere verbreitete er die Lehre der Thora, auch war er Beschneider (hier ist sich die Entzifferung beziehungsweise Übersetzung nicht ganz sicher), aufrecht tat er dieses Werk und war ein ernsthafter Herr seiner Sache und der Gebete alle seine Tage.“ Dank der Übersetzungen der hebräischen Inschriften durch Gerd Friedt bringt die Dokumentation Meyers Grabsteine wie diesen zum Sprechen, deutet Biografien an, die in der Mehrzahl von einem entbehrungsreichen, von Krankheiten wie Schwindsucht, Auszehrung und Tod auch schon in jungen Jahren überschatteten, dennoch gottesfürchtigen, wohltätigen Leben künden. Von Menschen wie Löb Marx, der 1869 an Altersschwäche mit „über 80 Jahren“ starb, Handelsmann auch er, „ein geradliniger, anständiger und wohltätiger Mann ... Er gab für die Armen und war liebevoll und von Nutzen für die Bedürftigen.“ Oder von Jettchen Herz, die im Alter von nur 15 Jahren 1862 an den Folgen eines „gastrischen Fiebers“ starb. Sie war die Tochter von Hirsch Herz, Lederhändler, ein Beruf, der eng mit den gleichfalls häufig von Juden ausgeübten betriebenen Professionen des Metzgers oder Viehhändlers verbunden war. Viehhändler war beispielsweise Calmann Salomon, dessen Frau Betti, eine geborene Jacob – der Beruf des Vaters wird mit „Krämer“ angegeben –, „Krone ihres Mannes und Zierde ihres Hauses“, 1863 mit 58 Jahren an Folgen eines „Brustkrampfs“ verstorben war.
Auch ein erheblicher Teil der acht Familien, die laut Angaben des Bürgermeisters 1910 in Waldbreitbach ansässig waren und deren Mitglieder zum großen Teil auf dem bis 1940 genutzten jüdischen Friedhof vor Ort bestattet sind, verdienten ihren Lebensunterhalt als Handelsmann oder Metzger, wie Samuel und Daniel Jonas. Der eine starb, wie aus dem bei Alemannia judaica veröffentlichen Grabregister ersichtlich ist, 1915 mit 51 Jahren, der andere 1935 mit 79. Metzger wie Wolf Jonas war auch Isaac Levy, der 1937 mit 69 verstarb.
1933 lebten zwölf jüdische Familien in Waldbreitbach, die Hälfte mit dem Namen Levy, die andere mit dem Namen Jonas. Verbreitete Berufe sind auch hier vor allem „Handelsmann oder Krämerin wie bei Johanna – Hannchen – Levy, der Witwe von Löw Levy, oder Metzger. Johannas Krämerladen lag, wie bei Alfred Hardt in seinem Aufsatz „Jüdisches Leben“ nachzulesen ist, in der in Adolf-Hitler-Straße umbenannten Hauptstraße, wie das Schuhgeschäft von Max Levy. Albert Levy handelte hier mit Spiel- und Gemischtwaren und Textilien und Wolf Levy führte eine Metzgerei.
Auch in Waldbreitbach nahmen ab 1933 die antisemitischen Schikanen drastisch zu. Die SA überwachte jüdische Geschäfte und brandmarkte deren Kunden, auf deren Häuser Parolen wie „Dieser frißt Fleisch vom Juden!“ auftauchten. „Sie konnten“, schreibt Hardt, „dies alles nicht so recht verstehen; sie glaubten nicht daran, daß auch für sie, doch alte Waldbreitbacher Bürger, diese Drohungen zuträfen. Lebten sie doch schon seit Generationen im Wiedtal, hatten ihre Pflichten auch gegenüber dem Staate erfüllt ..., Louis Jonas und Theo Levy waren mit hohen Auszeichnungen für beispielhaften Einsatz an der Front geehrt worden.“ Bei den Pogromen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 ging auch die schlichte Synagoge in Waldbreitbach in Flammen auf. Dank des Einsatzes der Feuerwehr verschonten sie zumindest das benachbarte alte Fachwerkhaus mit dem Krämerladen von Hannchen Levy. Die letzte, auf dem jüdischen Friedhof 1940 Bestattete ist die mit 46 Jahren verstorbene Hilda Levy, Tochter des Metzgers Wolf Levy, der bereits 1922 verstorben war, und Julie Mendels, die ihren Mann nur zwei Jahre überlebte. Sie sind ebenfalls auf dem Friedhof bestattet, wie Hildas Bruder Bernhard Levy, Metzger wie sein Vater. Ihre Schwestern Rosa und Blondine, die in Waldbreitbach ein Putzmachergeschäft geführt hatte, wurden 1942 ins KZ von Sobibor deportiert.