„Es war am Vormittag des 24. Dezember 2002. Ich hatte gerade mal vor einem Monat meinen neuen Job als Sekretärin an einer großen Schule angetreten. Und wie das so ist, spielte auch in diesem Jahr die Hektik vor dem Fest eine Rolle. Die vielen Überlegungen, ob alle Geschenke besorgt waren und alles erledigt war, kreisten ständig in meinem Kopf. Die neue Arbeit forderte mich zusätzlich, sodass ich mir die Zeit gut einteilen musste, um allem und jedem gerecht zu werden. Es sollte schließlich ein schönes Weihnachtsfest für die Familie werden. So richtig gelingen wollte dies jedoch nicht. Meine To-do-Liste war teilweise abgehakt, doch die Hektik eskalierte. Der Weihnachtsbaum wartete darauf, geschmückt zu werden. Der Kartoffelsalat musste zubereitet werden. Noch schnell das Wohnzimmer saugen. Hatte ich überhaupt die Geschenke schon eingepackt? Vergessen! Zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass kein Geschenkpapier mehr aufzufinden war. Ich musste also noch mal los, setzte mich ins Auto und fuhr ins nächste Geschäft. Überall herrschte hektisches Treiben. Meine Nervosität steigerte sich, als ich feststellte, dass sämtliches Geschenkpapier ausverkauft war. Also machte ich mich auf den Weg in den Nachbarort, in der Hoffnung, dort das Richtige zu finden. Ich befuhr die Landstraße und wunderte mich, dass auf halber Strecke plötzlich kein Weiterkommen mehr war. Vor mir erkannte ich eine lange Autoschlange und wurde ungeduldig. Sollte etwa ein Unfall passiert sein? Zum Glück war dies nicht der Fall.
Was mich jedoch erwarten sollte, war etwas ganz anderes, etwas Ungewöhnliches: Eine große Schafherde, die mit lautem eindringlichem Blöken beim Überqueren der Straße den Autoverkehr lahmlegte, um das gegenüberliegende Wiesengelände zu erreichen. Niemand schien sich dran zu stören. Kein Autofahrer hupte. Im Gegenteil. Eine gewisse Belustigung, wenn nicht sogar Freude, war in den Gesichtern der Autoinsassen zu erkennen. Der Schäfer in seinem typischen Umhang, dem breitkrempigem Hut und Stock versuchte, zusammen mit seinem schwarz-weißen Hütehund die Schäfchen zu leiten. Ich beobachtete die Schafe, wie gelassen und selbstverständlich sie ihren Weg bahnten.
Bereits nach kurzer Zeit bemerkte ich, dass meine bisher an den Tag gelegte Hektik verflog. Ich genoss sogar die durch dieses besondere und unvorhergesehene Ereignis aufgetretene innere Ruhe und Entspanntheit und spürte eine kleine Träne über mein Gesicht rinnen. Ich vergaß auf einmal, weshalb ich unterwegs war. Das Geschenkpapier wurde zur Nebensache. Als die Landstraße wieder frei war, fuhr ich nicht weiter, um mein Vorhaben zu erledigen, sondern kehrte ohne lange zu zögern um und steuerte mit einem aufkommenden wohligen Gefühl nach Hause.
Zuhause genehmigte ich mir eine Tasse Kaffee und begann dann, den Christbaum zu dekorieren. Die weihnachtliche Musik als Untermalung erzeugte eine stimmungsvolle Atmosphäre. So entstand letztendlich der schönste Weihnachtsbaum, den wir jemals hatten. Ich stellte noch die Krippe mit den alten Figuren aus meiner Kindheit auf. Der Tisch war gedeckt, der Kartoffelsalat fertig und die Würstchen siedeten vor sich hin.
Es wurde ein wunderschönes und harmonisches Weihnachtsfest im Kreise meiner Familie. Über die Geschenke haben sich alle gefreut, auch wenn sie nicht in buntem Papier, sondern in Zeitungspapier eingewickelt waren. Das diente auch einer gewissen Belustigung, da beim Auspacken der Geschenke zusätzlich noch die Nachrichten der Rhein-Zeitung zu lesen waren. Im Hinblick auf den Klimawandel und die Nachhaltigkeit war dies wohl eine aus der Not und dem Zufall herausgeborene Superidee.
Mittlerweile bin ich 71 Jahre und erinnere mich jedes Jahr zu Weihnachten an das Erlebnis mit der Schafherde, die dafür sorgte, dass dieses besondere Fest auch ohne Hektik und vor allem friedvoll gefeiert werden kann.“ red