Dass Reinhard so lang für die Strecke brauchte, lag daran, dass er nach dem Abitur in Halle, Leipzig und Bonn Theologie studierte. Erst nach Pfarrstationen in der Kurmark und in Berlin kam er in das damalige Westpreußen. Mit nur 39 Jahren wurde er erster Pfarrer an der Oberpfarrkirche St. Marien, Konsistorialrat und Stadtsuperintendent in Danzig – eine Stadt, die damals etwa 400.000 Einwohner hatte. Er leitete hier mehr als 600 Gottesdienste. 1911 wurde er zusätzlich zum Generalsuperintendenten der Provinz Westpreußen ernannt.
Danzig als Spielball zwischen Polen und dem Deutschen Reich
Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges gehörte Danzig zum Deutschen Reich. Wie auch das Saarland wurden Danzig und seine Umgebung durch die Verträge von Versailles unter Verwaltung des Völkerbundes gestellt. Sowohl das wiedergegründete Polen als auch Deutschland hatten Interesse daran, sich das Gebiet anzueignen – und die Bevölkerung war skeptisch, weil sie zuvor nicht über den zukünftigen Status der Region gefragt worden war.
Der beliebte Pfarrer führte die Fraktion der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) an – sie war die größte in der verfassungsgebenden Versammlung, die über den zukünftigen politischen Weg der Region entscheiden sollte. Reinhard wurde zum Präsidenten der verfassunggebenden Versammlung und später auch des ersten Volkstages der „Freien Stadt Danzig“ gewählt.
Damit konnte er der Bevölkerung der Stadt, die zu der Zukunft ihrer Stadt nicht gefragt worden war, wieder das Vertrauen in die Politik zurückgegeben.
Historiker Bodo Bost betont, dass Reinhard in Danzig sehr beliebt war.
Der Historiker Bodo Bost hat für das Heimat-Jahrbuch des Kreises 2021 einen ausführlichen Artikel über Reinhard verfasst. Darin heißt es: „Wilhelm Reinhard wollte, obwohl protestantischer Amtsträger, alle Danziger repräsentieren, deshalb schrieb er eine Neutralitätserklärung – gegen den Willen des Völkerbundes und Polens und wahrscheinlich auch Deutschlands – in die Verfassung des jungen Staates hinein. Damit konnte er der Bevölkerung der Stadt, die zu der Zukunft ihrer Stadt nicht gefragt worden war, wieder das Vertrauen in die Politik zurückgegeben.“ Am 15. November 1920 proklamierte Reinhard die „Freie Stadt Danzig“ – und zog sich bald wieder aus der Politik zurück.
Dass das von ihm maßgeblich mitgestaltete Konstrukt der „Freien Stadt“ immerhin bis zur Annexion durch das nationalsozialistische Deutschland im Jahr 1939 Bestand haben sollte, erlebte der Theologe nicht mehr: Während er sich an seinem Amtssitz in Stettin auf eine Reise nach Rügen vorbereitete, starb er am 17. Dezember 1922 an einem Herzinfarkt. Seine Frau Sophie gehörte der seit dem 18. Jahrhundert in Neuwied ansässigen Seifenfabrikantenfamilie Siegert an. Obwohl sie bis zu ihrem Tod 1926 in Stettin blieb, kehrten die drei gemeinsamen Kinder an den Rhein zurück.
Reinhards Nachkommen kehrten in die Deichstadt zurück
In einem 1960 erschienenen „Heimatblatt der Ost- und Westpreußen“ heißt es: „Drei Kinder von ihnen, Fabrikdirektor i. R. Dipl.-Ing. Fritz Reinhard, verheiratet (71), mit 4 Söhnen, Witwe Elise Reichel, geb. Reinhard (70) mit einem Sohn und Diakonieschwester Sophie Reinhard (68) ehren heute in Neuwied am Rhein das Andenken des geliebten Vaters zum 100. Geburtstag.“
Reinhards Urgroßenkel Fritz lebt heute in Hessen – laut ihm wohnen aktuell keine Nachfahren des Theologen mehr in der Deichstadt. Einmal im Jahr gibt es allerdings ein Familientreffen, das im heutigen Golfclub in Heimbach stattfindet. Der damalige Burghof wurde früher von Wilhelm Reinhards Bruder Viktor bewirtschaftet.