„Das ist wie eine Erscheinung.“ Werner Keßler haben die Knie gezittert, als er den Papst in Person sah. Dabei war Franziskus sehr viel weniger prunkvoll als die Päpste, die der 82-Jährige aus seiner Kindheit kannte. Keine goldene Tiara, stattdessen alt, zittrig und mit schwerem Gang: „Von der Last des Amtes beschwert“, erinnert sich der Neuwieder an seinen ersten Eindruck, als Papst Franziskus die Kapelle des vatikanischen Gästehauses Domus Sanctae Marthae betrat. Es ist der Ort, an dem dessen Leichnam noch vor wenigen Tagen aufgebahrt war.
2019 waren Werner und seine Frau Anneliese dabei, ihre goldene Hochzeit zu planen. Beim Joggen hatte der Engerser eine außergewöhnliche Idee: „Schreib doch einfach mal dem Papst.“ Er verfasste einen Brief mit einer Bitte um Audienz und darum, die 50-jährige Ehe der beiden Neuwieder zu segnen. Anbei sandte er eine Dankesurkunde vom Trierer Bischof Stephan Achkermann, die Keßler für sein jahrzehntelanges ehrenamtliches Engagement erhalten hatte. Er suchte die Adresse heraus und schickte den Brief ab.
Zwei Briefe an zwei Päpste
„Mein Mann heckt immer solche Sachen aus“, sagt Anneliese Keßler, die erst ein paar Tage später davon erfuhr. Sie sah den Brief auf dem Computer. „Du weißt, dass du an den falschen Papst geschrieben hast?“, fragte sie ihren Mann. Der hatte den Brief aus Versehen an Papst Benedikt XVI. adressiert. Kurz vor ihrer goldenen Hochzeit im Juni 2019 bekamen sie von dessen Büro eine Antwort: Glückwunschpost, ein Gebetsbuch und zwei Rosenkränze. Eigentlich war die Sache mit diesem Hochzeitsgeschenk für die beiden erledigt.
Aber dann dachte Werner Kessler: „Wenn man den Brief schon geschrieben hat, warum versucht man es nicht noch einmal?“ Er schickte den Brief, diesmal an Franziskus adressiert. Zu ihrer großen Überraschung bekamen sie im Oktober die Antwort von der Vertretung des Vatikans in Deutschland: eine Einladung, um an der Frühmesse des Papstes in Rom teilzunehmen. Anneliese Keßler reagierte im ersten Moment geschockt. „Ich fahr da nicht mit“, habe sie gesagt. „Ich fliege doch im November nicht nach Rom, um sieben in einer Messe zu sitzen.“ Doch nach diesem ersten Impuls war auch sie begeistert.

Einen guten Monat später saßen die beiden mit Menschen aus aller Welt in der kleinen Kapelle. Es sei sehr intim gewesen, beschreibt es Keßler, höchstens vierzig Menschen. Sie hatten Glück und wurden in die erste Reihe eingewiesen, nur zwei Meter von dem Kirchenoberhaupt entfernt. Die Messe sei kurz, aber bewegend gewesen. Doch man habe dem Argentinier sein Alter angesehen.
Im Anschluss an die Messe nahm sich der Papst für jeden Besucher Zeit einige Minuten Zeit. In kleinen Gruppen sprach er mit den Menschen. Die Keßlers waren am Ende der Schlange und sahen nun den Menschen hinter dem Geistlichen. Im Gespräch mit den Gläubigen schien der Papst aufzugehen. Ein menschennaher Priester, der sich nicht den Ring küssen lassen wollte.

Den Bopparder Wein hatte Franziskus nicht vergessen
Franziskus und die Deutschen – ein schwieriges Verhältnis. Der Argentinier fremdelte mit dem Land der Dichter und Denker. Dabei erlebte er in den 80er-Jahren einen augenscheinlich glücklichen Sommer am Mittelrhein.
„Was sagst du denn dann überhaupt“, hatte Anneliese Keßler in der Schlange überlegt. Sie hatten dem Papst als Geschenk eine Flasche Wein, „Bopparder Hamm“ mitgebracht. In dem Ort am Rhein hatte der Argentinier 1985 einen Sommer lang beim Goethe-Institut Deutsch gelernt. „Als wir dann bei ihm waren und er erfuhr, dass wir aus Deutschland kamen, begrüßte er uns auf Deutsch.“ Er habe nach Boppard gefragt und ob sie die Wirtin Helma Schmitt kennen würden. Das Eis war damit gebrochen.
Doch Werner Keßler wollte auch Probleme der Kirche ansprechen: „Ich bin sehr kritisch, was meine Kirche betrifft.“ Er hatte Berichte über Missbrauchsfälle in der Kirche, die Bewegung Maria 2.0, die sich für mehr Beteiligung von Frauen in der Kirche einsetzt, und das Zölibat mitgebracht, die er dem Papst übergab.
„Endlich sagt mal einer was Blödsinniges.“
Werner Keßler
Dann sagte der Neuwieder zu dem Papst auf Italienisch: „Papa, wenn Du das Zölibat abschaffst, haben wir bald Tausende katholische Kinder mehr.“ Seine Frau erklärt schmunzelt: „Am liebsten hätte ich meinen Mann gehauen.“ Der Papst habe kurz gestockt und sei dann in schallendes Gelächter ausgebrochen. „Endlich sagt mal einer was Blödsinniges“ habe sich Franziskus wohl gedacht, sagt Werner Kessler.
Ein Highlight sei dem Papst aber entgangen, so Werner Keßler. Eigentlich wollte er Franziskus ein Ständchen bringen und das Volkslied „Warum ist es am Rhein so schön“ vorspielen. Doch in der Aufregung hatte er die Mundharmonika in seinem Mantel vergessen, und aus Sicherheitsgründen durfte er zwischen Messe und Gespräch nicht zur Garderobe, kam er nun also nicht mehr zurück. „Da war ich froh, dass er die nicht dabei hatte“, sagt Anneliese Keßler.
Ihr Mann hatte Franziskus in einem Brief angeboten, das Treffen für die diamantene Hochzeit zu wiederholen und das Ständchen nachzuholen. Die Nachricht vom Tod des Papstes hat ihn bewegt. Aber noch mehr, dass das Kirchenoberhaupt trotz schwerer Krankheit seiner Aufgabe nachging. Doch die Erinnerung an Papst Franziskus und die Audienz in Rom bleibt den beiden.