Aber es ist gar nicht so einfach, die Frauen zu erreichen, sagt Stephanie Shirazi, die im Verein aktiv ist. Die Hemmschwelle ist hoch, über so ein sensibles Thema zu sprechen, die Frauen brauchen Kraft und Mut. Viele Neuwiederinnen besuchen lieber eine Gruppe in Westerburg, weiß Shirazi, denn dort haben sie weniger Befürchtungen auf jemanden zu treffen, der sie kennt. Zwei Klassiker, die den unverarbeiteten Missbrauch wieder hochkommen lassen, sind ein Bandscheibenvorfall mit Mitte 50, nach dem sich die Frauen hilflos auf dem Rücken liegend im Klinikbett wiederfinden, erzählt Shirazi aus ihrer Therapeutinnenerfahrung. Oder die eigenen Kinder erreichen ein Alter, in dem die Mütter missbraucht wurden. „Da ist plötzlich wieder da, was 25 Jahre lang vollkommen verdrängt worden war“, sagt sie. Die Filme, die vor ihren Augen ablaufen, machen Angst und lassen sie manchmal sogar erbrechen. Oft gehen die Frauen damit zum Hausarzt und es dauert viele Jahre bis klar ist, dass sie an Traumafolgenstörungen leiden. „Die waren, während sie jahrelang funktioniert haben, nicht sichtbar.“ Im Gegenteil: „Das sind oft sehr leistungsstarke Frauen“, sagt Angelika Pacyna, die mit Hildegard Hieronymi-Gorgus die Gruppe therapeutisch begleitet. Beide haben jeweils eine Naturheilpraxis im Kreis Neuwied und sich während der Ausbildung kennengelernt.
Die Betroffenen sind es ihr Leben lang gewöhnt, das zu tun, was man ihnen sagt. „Es ist bewundernswert, dass sie dann sagen: ,Ich will kein Opfer mehr sein.'“, sagt Pacyna. „Aber nur wenige haben das am Anfang für sich so klar“, meint Hieronymi-Gorgus, die vor zweieinhalb Jahren zur Gruppe kam als Therapeutinnen gesucht wurden. In der Gruppe können die Teilnehmerinnen Techniken erlernen, die ihnen dabei helfen: Wie finde ich kleine Inseln im Alltag, in denen ich mich glücklich fühle? Wie lerne ich ,Nein' zu sagen? Wie kann ich ausdrücken, was ich gerade fühle? Für nicht Betroffene hört sich das banal an, aber wenn man gelernt hat, zu gehorchen, um den Täter milde zu stimmen und damit immer die Wahrnehmung für sich selbst und den eigenen Willen ausgeschaltet hat, dann ist das sehr schwierig, erläutert Shirazi. „Traumatisierte Mütter geben das oft an ihre Kinder weiter“, erzählt Hieronymi-Gorgus. Das Gefühl, man kann keinem trauen und die unterbewusste Angst gerade vor den Menschen, denen man sich nah fühlen möchte. Denn die meisten sexualisierten Gewalttaten passieren im engsten sozialen Umfeld, erläutert Shirazi. „Mit Mitte 30 merken die Kinder dann, dass etwas nicht stimmt.“
„Wir thematisieren die Tat selbst nicht“, erläutert Hieronymi-Gorgus. „Das hätte vielleicht verheerende Folgen für die anderen Teilnehmerinnen.“ In einem Vorgespräch überprüfen die Leiterinnen, ob eine Frau überhaupt geeignet ist für die Gruppe. Wie viel sie dann von ihrem Leidensweg verrät, ist ihre Sache und sie kann völlig anonym bleiben. Die Teilnehmerinnen erzählen aus ihrem Alltag, geben sich gegenseitig Tipps, zum Beispiel für die schwierige Suche nach einem Therapieplatz im Kreis Neuwied und bekommen nach und nach das Gefühl: „Ich bin nicht alleine“, sagt Pacyna, die die Gruppe begleitet, um etwas zurückzugeben. Denn sie hat in ihrem Leben eine glückliche Wendung erlebt, erzählt die Heilpraktikerin, die auch als Integrations- und Freizeithelferin arbeitet.
Die Frauen können so lange wie sie möchten die wöchentlichen Treffen besuchen. Der Weg das Traumata eines sexuellen Missbrauchs zu bearbeiten, ist lang und schmerzhaft, sagen die Expertinnen, seelische Narben bleiben. „Es ist wie eine Spirale“, erklärt Hieronymi-Gorgus. „Wenn ich mir ein Stück erarbeitet habe, mache ich mit dem nächsten weiter.“ Nicht selten gibt es Rückschläge und die Frauen fallen in ihre eingeübten Verhaltensmuster zurück. „Manche schaffen es bis Berghütte eins, andere bis fünf“, ergänzt Pacyna. „Aber jeder Schritt ist ein Fortschritt.“