Man wächst mit seinen Herausforderungen. Dass an dieser Binsenweisheit etwas dran ist, stellen die „66 Minuten Theater Adventures“ aus Neuwied gerade unter Beweis. Dort absolviert die 19-jährige Sina Lessinger seit Kurzem eine Ausbildung zur Gestalterin für immersive Medien – ein Berufsbild, das es erst seit August 2023 gibt. „Eine absolute Innovation“ nennt es Oliver Grabus, Creative Director von „66 Minuten“. „Das gibt es in ganz Rheinland-Pfalz nur fünfmal!“ Dass die kleine Kreativschmiede an der Kirchstraße in diesem Beruf ausbilden darf, ist der (vorläufige) Höhepunkt einer Entwicklung, die vor sieben Jahren begonnen hat.
Wir haben gemerkt: Auch wenn wir kein klassischer Medienbetrieb sind, können wir ein guter Ausbilder sein.
Oliver Grabus, Creative Director von 66 Minuten
Escape Rooms (zu Deutsch etwa: Fluchträume) sind das Kerngeschäft von „66 Minuten“. In einem Escape Room erleben die Mitspieler ein Abenteuer und müssen Rätsel lösen, um eine Geschichte zu einem guten Ende zu bringen. Eigentlich ist es das Ziel bei einem Escape Room, besagten Raum möglichst schnell wieder zu verlassen. Wer das schafft, gewinnt. Diese goldene Regel hat Luisa Kranz vor sieben Jahren auf den Kopf gestellt. Es war der Beginn der Erfolgsgeschichte vom Ausbildungsbetrieb „66 Minuten“.
Nicht locker gelassen
„Am Anfang“, erzählt Oliver Grabus, „stand Luisas Wunsch, hier bleiben zu wollen.“ Es ist der Frühsommer 2017, und die junge Frau hat gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) Kultur bei „66 Minuten“ absolviert. Danach möchte sie weiter in dem Betrieb mitarbeiten. Bloß wie? Etwa als Auszubildende? „Wir hatten damals noch gar keine Lizenz als Ausbildungsbetrieb“, erklärt Grabus. Aber Luisa Kranz lässt nicht locker.
Eine Schnapsidee sei das damals gewesen, sagt Grabus rückblickend. „Ich wäre da nie drauf gekommen. Aber ich fand die Idee gut.“ Also macht sich der Creative Director schlau. Wie wird man eigentlich Ausbilder? „Am Ende war es super einfach“, sagt er. „Da haben wir dann den nächsten Schritt gemacht.“ Luisa Kranz wird Auszubildende zur Mediengestalterin im Bild- und Tonbereich bei „66 Minuten“, Oliver Grabus wird ihr Ausbilder. Heute ist die 27-jährige Luisa Kranz selbst Ausbilderin bei „66 Minuten“. Der Betrieb bildet inzwischen in vier verschiedenen Berufen aus. Oliver Grabus sagt: „Wir haben gemerkt: Auch wenn wir kein klassischer Medienbetrieb sind, können wir ein guter Ausbilder sein.“
Für Azubis attraktiv
Drei weitere junge Frauen haben mittlerweile die Nachfolge von Luisa Kranz angetreten. Da ist zum einen Nele Nachtsheim, 23, die ihre Ausbildung als Mediengestalterin Digital und Print mit Fachrichtung Konzeption und Visualisierung so gut wie abgeschlossen hat. Dann ist da noch Laura Jung, ebenfalls 23 und ebenfalls kurz vor dem Abschluss ihrer Ausbildung zur Fachinformatikerin für Systemintegration. Beide Azubis möchte „66 Minuten“ gern übernehmen. Und zum Schluss ist da noch Sina Lessinger, die angehende Gestalterin für immersive Medien. Alle drei sind – so wie Luisa Kranz vor ihnen – über ein FSJ zu „66 Minuten“ gekommen.
Wünsche, Ideen, Motivation, eine Vision. Und dann braucht es jemanden, der das hört, versteht und sagt: Lass es uns machen.
Oliver Grabus
Von außen betrachtet, sieht es fast so aus, als hätte „66 Minuten“ das Patentrezept zur Personalgewinnung in Zeiten des Fachkräftemangels gefunden: vom Freiwilligen Sozialen Jahr über die Ausbildung in die Festanstellung. Klingt logisch. Doch Oliver Grabus winkt ab. Ein Selbstläufer ist die Sache nicht. „Die vier bringen etwas ein“, sagt er über seine jungen Mitarbeiterinnen. „Wünsche, Ideen, Motivation, eine Vision. Und dann braucht es jemanden, der das hört, versteht und sagt: Lass es uns machen.“
So war es bei Luisa Kranz, „die nach dem FSJ einfach nicht gehen wollte“, wie Grabus sagt, und der es ermöglicht wurde, als Azubi zu bleiben. So ähnlich war es auch bei Laura Jung, die eigentlich Bibliothekarin werden wollte, dann aber doch erst ein FSJ bei „66 Minuten“ machte. Zu der Zeit war der Betrieb auf der Suche nach einem Fachinformatiker, „doch wir haben keinen gefunden“, schildert Grabus. „Aber wir haben bei Laura ein gewisses Talent bemerkt und hinter den Kulissen die Idee entwickelt.“ Mit Erfolg. Laura Jung unterstreicht: „Ohne das FSJ wäre ich zu 100 Prozent nicht Fachinformatikerin geworden.“
Einblicke bekommen
Die Geschichte von Nele Nachtsheim ist ein weiteres Beispiel. „Ich hatte das Glück, dass ich im FSJ etwas ausprobieren und konzipieren durfte“, erzählt sie. „Das hat mir gezeigt, dass es mir Spaß macht, praktische Dinge zu tun.“ Und bei „66 Minuten“ fragte man sich zu dieser Zeit, ob man nicht einen Mediengestalter Digital und Print gebrauchen könnte. Und man konnte. „Das waren dann der zweite und der dritte Beruf, den wir ausbilden“, fasst Grabus zusammen.
Und jetzt Sina Lessinger. Sie kam im April 2022 zum FSJ bei „66 Minuten“, nachdem sie eine Ausbildung als Chemikantin abgebrochen hatte. „Das war nichts für mich“, erklärt sie. Während ihrer Zeit bei „66 Minuten“ wird auf Bundesebene der neue Ausbildungsberuf zum Gestalter für immersive Medien entwickelt, bei dem es unter anderem um das Erschaffen virtueller Welten geht – und das ist sehr viel mehr ihr Ding, so Lessinger. Auch für „66 Minuten“ ist der neue Beruf von großem Interesse. „Fachlich“, sagt Oliver Grabus, „liegt er genau in der Mitte der drei anderen Berufe, in denen wir ausbilden. Also haben wir überlegt, ob das ein weiterer Beruf ist, in dem wir ausbilden könnten.“ „66 Minuten“ ergreift die Gelegenheit und bekommt tatsächlich eine Zulassung als Ausbildungsbetrieb. Und Sina Lessinger bekommt den Ausbildungsplatz.
Schuld nicht bei anderen suchen
Auch wenn die Geschichten seiner vier Mitarbeiterinnen vielleicht kein Patentrezept gegen den Fachkräftemangel ergeben, will Oliver Grabus eines hervorheben: „Es ist ein Fehler, die Schuld bei anderen zu suchen, dass wir keine Fachkräfte haben. Es ist viel besser zu sagen: Was können wir mit den Leuten, die da sind, bewirken.“
Die Entwicklung von „66 Minuten“ zeige, wie junge Menschen die Welt verändern können. „Wir verbringen hier 40 Stunden die Woche. Das ist unsere Blase, unsere Welt. Und die können wir gestalten.“ Wenn alle Lust und Motivation mitbringen, „dann geht da nichts drüber. Da kann man alles draus machen“, ist sich Grabus sicher.