RZ-Umfrage bei Vereinen und Schulen
Über die WM wird weiter heiß diskutiert: Stimmen aus dem Kreis Neuwied gesammelt
Das Verbot der „One Love“-Binde ist ein Kritikpunkt von vielen an der WM in Katar. Foto: Sebastian Gollnow/dpa
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Kreis Neuwied. Heute spielt die deutsche Mannschaft um den Einzug ins Achtelfinale der Fußball-Weltmeisterschaft 2022. Doch wie bei keinem anderen internationalen Turnier bisher steht für viele weniger der sportliche Aspekt im Mittelpunkt. Die RZ hat in Schulen und Vereinen Stimmen zur Ausrichtung der WM in Katar gesammelt, die deutlich machen, wie groß die Spannbreite der Meinungen zur umstrittenen Wahl des Gastgeberlandes ist.

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1 Die Neuwieder Ortsgruppe der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vertritt eine klare Position. „Die Menschenrechte müssen oberste Priorität haben“, bringt es Gruppenmitglied Manfred Kirsch auf den Punkt. „Deswegen sollten wir diese WM boykottieren. Ich schaue mir kein Spiel an.“ Auf die Situation in Katar hat die Amnesty-Gruppe kürzlich mit einer Aktion in der Innenstadt aufmerksam gemacht. Dabei richtete sich die Kritik der Aktivisten sowohl gegen die Verantwortlichen in Katar, insbesondere gegen das WM-Organisationskomitee, als auch gegen den Fußball-Weltverband Fifa.

Amnesty-Mitglied Inge Rockenfeller erklärte dazu, dass die WM „jetzt schon alle Rekorde bricht, insbesondere in Bezug auf die Menschenrechtsverletzungen“. Deshalb wolle die Amnesty-Ortsgruppe der Fifa für ihr rücksichtsloses und ignorantes Verhalten die rote Karte zeigen. Gruppensprecherin Susanne Kudies ergänzte, dass es in Katar neben den Arbeitnehmerrechten noch andere menschenrechtliche Fragen zu klären gäbe, etwa die Wahrung der Rechte von Frauen und Menschen der LGBTQ-Gemeinschaft.

Wir müssen endlich zu einer Politik kommen, die diejenigen ächtet, die Menschenrechte verletzen.

Manfred Kirsch, Amnesty

Manfred Kirsch betont: „Wir müssen endlich zu einer Politik kommen, die diejenigen ächtet, die Menschenrechte verletzen.“ Es könne nicht sein, dass man Katar mit einer Fußball-WM hofiere, sodass das Land davon profitiert, während dort zugleich die Menschenrechte mit Füßen getreten würden. Amnesty hofft nun, dass die Fifa ihren guten Vorsätzen, mit denen sie Menschenrechtsfrage an die Spitze ihrer Agenda gesetzt habe, auch Taten folgen lasse. Die Fifa solle ihren Einfluss auf die katarische Regierung dazu nutzen, dass weitere Maßnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte umgesetzt werden. Um ihren Standpunkt gegenüber dem Weltfußballverband deutlich zu machen, wird Amnesty International eine Petition starten, die auch in Neuwied unterzeichnet werden kann.

2 Für den Friedensdienst Eirene in Neuwied ist die Fußball-WM in Katar kein Schwerpunktthema. „Das liegt daran, dass wir in der Region nicht aktiv sind“, sagt Pressesprecher Thorsten Klein im RZ-Gespräch. Generell begrüße Eirene, dass Weltmeisterschaften in möglichst vielen Ländern stattfinden können. Gleichwohl sorgen die Vergabe der WM durch die Fifa und die Menschenrechtslage in Katar für Gesprächsstoff unter den Kollegen. Tenor sei laut Klein: „Generell sehen wir die WM-Vergabe an ein autoritäres System sehr kritisch. Denn aus unserer Sicht müssen die Menschenrechte, dazu gehört auch die sexuelle Selbstbestimmung, in einem Gastgeberland gewahrt sein. Und das ist eben in Katar nicht der Fall.“

Da ist in Katar, aber auch in vielen anderen Ländern noch viel zu tun, und es hat auch in Europa lang gedauert, bis diese Menschenrechte garantiert waren.

Thorsten Klein, Eirene

Eirene stehe für Gewaltfreiheit. Das beinhalte auch Rechte von Arbeitnehmern. „Da ist in Katar, aber auch in vielen anderen Ländern noch viel zu tun, und es hat auch in Europa lang gedauert, bis diese Menschenrechte garantiert waren“, erklärt Klein und verweist auf andere Großveranstaltungen wie die Fußball-WM in Russland 2018 oder die Olympischen Spiele in China. Auch diese Vergaben seien kritisch zu bewerten.

3 Und wie gehen Schulen mit der WM um? Bei diesem Turnier ist auf jeden Fall alles anders an der Stefan-Andres-Realschule plus in Unkel. Bei früheren Welt- und Europameisterschaften schauten Ganztagsschüler die Spiele zusammen in der Schule. „Jetzt gibt es da überhaupt keine Nachfrage“, sagt Rektorin Bettina Stenz. Ihr ist auch aufgefallen, dass die Schüler dieses Mal keine Fanartikel tragen. Und auch an einem Tippspiel zeigten sie wenig Interesse.

Dass die deutschen Spieler sich den Mund zugehalten haben, kam bei den Schülern nicht so gut an.

Bettina Stenz, Rektorin in Unkel

In der Klasse 10 untersucht Stenz das Thema Katar und die WM sowie die Diskussion um die Menschenrechte im Fach Gesellschaftslehre. Dabei machen sich die 15- bis 17-jährigen Jugendlichen ihre ganz eigenen Gedanken – etwa zum Zeichen des Protestes der deutschen Mannschaft gegen das Nein zur „One-Love“-Binde. „Dass die deutschen Spieler sich den Mund zugehalten haben, kam bei den Schülern nicht so gut an“, erklärt Stenz. „Sie empfanden es als etwas schwaches Zeichen und kamen auf das Wortspiel infantil, also kindisch – in Anspielung auf Gianni Infantino von der Fifa. Sie sehen sehr klar, dass es bei dem Turnier um Geld geht.“

Stenz findet es wichtig, Schüler für das Thema zu sensibilisieren. Auch sie selbst habe frühere Weltmeisterschaften immer geschaut. Dieses Mal nicht. „Zur Kritik kommt hinzu, dass die Zeit auch durch Advent und Weihnachten schon besetzt ist“, findet sie. Das Fußballspielen an sich ist bei den Schülern aber nach wie vor gefragt, ebenso wie Tischtennis oder Basketball in der Pause auf dem Schulhof. „Das ist auch wichtig. Sie sollen sich austoben.“

Ein breit gefächertes Meinungsbild zur WM gibt es an der Realschule plus in Puderbach, wie Konrektorin Natanja Neitzert bei der jüngsten Klassensprecherkonferenz erfragt hat. „Ein Schüler der neunten Klasse sagte, er schaue gar keine Spiele und begründete das mit den vielen Arbeitern, die gestorben sind, und dem Verbot der ,One-Love'-Kapitänsbinde.“ Genau das Gegenteil habe ein muslimischer Schüler aus der Klasse 6 zum Ausdruck gebracht. „Er sagte, man müsse akzeptieren, dass es ein muslimisches Land sei, und er fände es in Ordnung, dass dort manche Sachen verboten seien.“ Manche Schüler interessieren sich auch gar nicht für Fußball. Eine nicht kleine Zahl dagegen schaut die Spiele, weiß Neitzert. Die Meinungsvielfalt zur WM deckt sich mit den Ergebnissen einer Umfrage, die die Konrektorin unter den Schülern durchgeführt hat.

Zur Auswahl standen verschiedene Aussagen wie „ich schaue mir die WM im Fernsehen an“, „ich schaue aus Protest nicht“, „ich interessiere mich überhaupt nicht für Fußball“ bis hin zu Angaben zu Informationsquellen. Zur Auswertung der bisherigen Antworten sagt Neitzert: „Ich habe von allem alles gehört. Es ist ein großes Thema. Viele informieren sich über TikTok oder Instagram.“ Wichtig findet auch sie es, den Schülern die Möglichkeit zu geben, sich zu dem Thema zu äußern. „Eine Kollegin hat mit den Kindern in Ethik besprochen, aus welchen Gründen die Schüler schauen – oder eben nicht.“

Bei uns im Verein ist die WM noch überhaupt kein Thema.

Stephan Keßler, Jugendleiter FV Engers

4 Für die Sportvereine hat die RZ exemplarisch beim Jugendleiter des FV Engers, Stephan Keßler, nachgefragt, welche Rolle die WM spielt und wie der Verein damit im Jugendbereich umgeht. Wenige Tage vor dem Start des Turniers sagte Keßler: „Bei uns im Verein ist die WM noch überhaupt kein Thema.“ Er persönlich sagt: „Die ganze Veranstaltung finde ich unsäglich. Ich ringe mit mir selbst, ob ich mich da überhaupt als Zuschauer beteilige.“ Regelmäßig tauscht er sich als Jugendleiter mit Jugendtrainern aus. Für die Trainersitzung kurz vor der WM nahm er das Thema mit, um über den Umgang mit der WM in Katar mit den Trainern zu sprechen. Keßler sagt, dass er an die Trainer appellierte, in ihren Jugendteams „die Problematiken, die mit dem Turnier in Katar zusammenhängen, aufzuzeigen und in den Jugendmannschaften anzusprechen“.

Er findet es wichtig, die Menschenrechtslage, die Toleranz gegenüber Minderheiten, das Thema der Korruption und die Ausbeutung von Arbeitern zu thematisieren.

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