Seit März vergangenen Jahres waren mehr als 60 Post-Covid-Patienten in der Waldbreitbacher Klinik zur Reha, erzählt Kelm – Tendenz derzeit steigend. Als Post Covid wird bezeichnet, wenn sich neue Symptome während oder nach einer Erkrankung entwickeln, die länger als zwölf Wochen andauern und nicht durch eine andere Diagnose erklärt werden können. Frauen sind mehr betroffen als Männer. In Deutschland wird davon ausgegangen, dass nach einer Corona-Erkrankung das Risiko, Post Covid zu bekommen, bei insgesamt 10 bis 15 Prozent liegt, sagt Kelm, wer dreifach geimpft ist, kann es auf 5 Prozent reduzieren. Wer allerdings im Krankenhaus stationär behandelt werden musste, der hat ein deutlich höheres Risiko.
„Wir wissen noch nicht genau, warum manche diese Langzeitfolgen haben.“
Dr. Stefan Kelm, Ärztlicher Direktor der Westerwaldklinik
„Wir wissen noch nicht genau, warum manche diese Langzeitfolgen haben“, sagt Kelm. Deswegen kann die Reha nur versuchen, die Symptome zu lindern. Die Westerwaldklinik ist an einer bundesweiten Studie beteiligt, die von der Deutschen Rentenversicherung Bund mitfinanziert wird, die unter anderem zeigen soll, „welches Therapieprogramm wem zugutekommt“, erläutert der Ärztliche Direktor. Denn Post Covid entwickelt sich laut ihm langsam zu „einem Riesenkostenfaktor“ für Rentenversicherung, Berufsgenossenschaften und das Gesundheitssystem. Derzeit werden laut des Experten die Rehaanträge oft bewilligt. Allerdings sollten vorher Fachärzte checken, ob hinter den Symptomen keine anderen Ursachen stecken, sagt Kelm, weil die Symptome so unspezifisch sind, das heißt auch als Folge anderer Erkrankungen auftreten können.
Wie misst man, wie erschöpft jemand ist?
Ein weiteres Problem ist, dass viele von dem „Blumenstrauß an Symptomen“, wie Kelm es nennt, auf ein subjektives Empfinden zurückzuführen sind. Wie misst man, wie erschöpft jemand ist? Für die Studie machen die Patienten einen Test, bei dem geschaut wird, welche Strecke sie in sechs Minuten gehen können und ob das nach der Reha besser geworden ist. Auch neuropsychologische Tests werden gemacht, um zu prüfen, ob die Leistung nachlässt. „Es ist wichtig für die Kostenträger, dass die Beschwerden messbar sind“, sagt der ärztliche Direktor.
„Manche Patienten schätzen ihre Leistungsfähigkeit schlechter ein als sie messbar wirklich ist.“ Aber auch die Tests können nicht zeigen, ob sich jemand für die gleiche Leistung viel mehr anstrengen musste. Ein weiteres Kuriosum: „Es entwickeln Patienten, die nie Covid hatten, Post-Covid-Symtome“, sagt Kelm.
Spielen Antikörper eine entscheidene Rolle?
Eine Hoffnung richtet sich auf die Universität Erlangen. Dort wurde an Patienten mit Augenproblemen, die nichts mit Covid-19 zu tun hatten, ein Medikament getestet, und man stellte zufällig fest, dass sich bei den Patienten, die auch an Post Covid litten, die Symptome besserten, erzählt der Experte. Allerdings ist ihre Zahl so gering, dass es ein Zufall sein kann. Wenn es keiner ist, könnte es darauf hinweisen, dass Antikörper eine entscheidende Rolle bei der Entstehung der Krankheit spielen. Eine Studie soll jetzt mehr Klarheit bringen.
Hinsichtlich der Ursache für das Post-Covid-Syndrom gibt es Hinweise darauf, dass eine Dysregulation des Immunsystems beteiligt ist und es eine Stoffwechselstörung in den Muskeln geben könnte, sagt Kelm. Patienten, die psychosomatische Probleme hatten, scheinen auch ein höheres Risiko zu haben, zu erkranken. Aber alle Hinweise sind noch vage und nicht wissenschaftlich belegt.
„Wenn jetzt nicht etwas passiert, dann werden wir ein richtiges Problem bekommen.“
Dr. Stefan Kelm, Ärztlicher Direktor der Westerwaldklinik
„Ich kann mich noch genau an die Bilder Ende 2019 aus Wuhan erinnern“, sagt Kelm. Wie alle ging auch er davon aus, dass es wie bei Vogel- und Schweinegrippe glimpflich abläuft. Die Realität sieht bekanntlich anders aus. „Wir haben gesehen, wie wichtig ein gutes Gesundheitswesen ist“, sagt der Ärztliche Direktor. „Wenn jetzt nicht etwas passiert, dann werden wir ein richtiges Problem bekommen“, meint er mit Blick auf müdes Pflegepersonal und Ärzte, die immer noch nicht besser entlohnt geschweige denn entlastet werden.
Klinik kurzzeitig wegen Corona geschlossen
Auch Kelms Klinik musste im März vergangenen Jahres schließen, als es trotz aller Vorsichtsmaßnahmen mehr als zehn positive Fälle gab und „viele Mitarbeiter als Kontaktpersonen in Quarantäne mussten. Wir mussten das Haus fast leeren und dann innerhalb weniger Tage wieder füllen.“ Er kann seine Klinik immer noch nicht wieder so belegen wie vor Corona, Doppelzimmer gibt es nicht mehr.
Wie lang wird Post Covid die Menschen noch begleiten? Kelm, der im bisherigen Gespräch alle Fragen direkt und auch für medizinische Laien sehr verständlich beantwortet, macht eine Pause. „Das ist eine schwierige Frage“, meint er. „Ich habe Hoffnung, dass es weniger wird, aber ich kann das nicht wissenschaftlich begründen.“ Auf der einen Seite versteht er, dass die Menschen nach zweieinhalb Jahren Corona-müde sind. Aber er warnt nachdrücklich davor, unvorsichtig zu sein. Masketragen gehört für ihn zum Beispiel immer dazu. Bis jetzt hat Corona ihn noch nicht erwischt.
„Es gibt genügend Ärzte, die an Post Covid leiden.“
Dr. Stefan Kelm, Ärztlicher Direktor der Westerwaldklinik
Aber selbst der Mediziner hat „Respekt“ vor Post Covid, gibt er zu. „Es gibt genügend Ärzte, die daran leiden.“ Und oft verträgt sich ihr Berufsethos nicht wirklich gut damit, sich die eigenen Kräfte bewusst einzuteilen und unter der eigenen, deutlich gesunkenen Leistungsgrenze zu bleiben. Und wer es erzwingen will, wird nur noch erschöpfter. Die Krankenschwester, die sich zu Beginn der Pandemie infizierte, war sogar noch ein zweites Mal in der Westerwaldklinik. „Es ging ihr besser, aber immer noch nicht so gut, dass sie wieder arbeiten konnte“, erinnert sich der Ärztliche Direktor.