Linz – Was heutzutage kaum noch vorstellbar ist, war für die Linzer Bevölkerung Mitte der 1980er-Jahre alltäglich: Bis zu 40-mal pro Tag jagten Tiefflieger der Bundeswehr und anderer Nato-Truppen mit ohrenbetäubendem Lärm über die Dächer der Stadt. Am 28. Mai 1984 wurde der Albtraum Wirklichkeit: Eine F-16 mit niederländischer Besatzung stürzte in unmittelbarer Nähe zum Linzer Krankenhaus ab. An dieses Ereignis, das sich heute zum 30. Mal jährt, erinnert ein Artikel der Linzer Stadtarchivarin Andrea Rönz. Sie hat ihn anlässlich des 125-jährigen Bestehens der Freiwilligen Feuerwehr Linz in der Festschrift veröffentlicht. Die RZ veröffentlicht Auszüge daraus.
Andrea Rönz schreibt: Besonders betroffen von den Tieffliegern war das ab 1977 besiedelte Neubaugebiet Roniger Hof, wo 1979 auch der Neubau des Linzer Krankenhauses errichtet worden war. Bis auf 500 Fuß, also 150 Meter über Grund durften die Militärmaschinen herunterziehen, um Kriegseinsätze unter realistischen Bedingungen zu simulieren. Bereits seit Jahren hatten Bürgermeister und Einwohner von Linz und den umliegenden Gemeinden vergeblich gegen die Belastung durch Tiefflüge protestiert und immer wieder vor den Gefahren besonders durch das stetige Überfliegen des Krankenhauses gewarnt. Für viele schien ein Unglück nur eine Frage der Zeit.
Unglück nur eine Frage der Zeit
Am 28. Mai 1984 geschah es: An diesem Tag waren am Vormittag zwei niederländische Piloten mit ihren F-16-Militärmaschinen auf dem Stützpunkt Volkel zu einem Routineeinsatz über dem Rhein gestartet. Wegen regnerischen Wetters und schlechter Sicht wurden die Maschinen kurz nach dem Start zum Stützpunkt zurückbeordert und flogen eine Schleife über den Westerwald, um kehrtzumachen. Um 10.40 Uhr brach der Funkkontakt zu einem der Piloten ab. Nach der Kehrtwende hatte er es nicht geschafft, sein Flugzeug über die Linzer Höhe zu ziehen. Die Militärmaschine raste im Sturzflug über die Häuser des Neubaugebiets.
Den Zusatztank verloren
Um 10.45 Uhr wurde die Linzer Wehr von der Polizei alarmiert, dass im Stadtteil Roniger Hof ein Militärflugzeug seinen Zusatztank verloren habe. Die Wehr rückte mit 13 Wehrmännern, verschiedenen Löschfahrzeugen und zwei Pkws aus. Beim Eintreffen am Einsatzort, einem mehrgeschossigen Wohn- und Geschäftshaus in der Magdalena-Daemen-Straße 18, in unmittelbarer Nähe zum Linzer Krankenhaus gelegen, war das Gebäude in eine riesige schwarze Rauchwolke gehüllt, mehrere Personen galten als vermisst. Krankenschwestern, Pfleger und Ärzte des Krankenhauses leisteten bei Verletzten Erste Hilfe und versuchten, die Flammen mit Feuerlöschern einzudämmen. Der Umkreis des zerstörten Reiheneckhauses war weithin mit Trümmern, Einrichtungsgegenständen und Metallteilen übersät. Umherfliegende Trümmerteile hatten auf dem angrenzenden Parkplatz des Krankenhauses zahlreiche Autos zum Teil schwer beschädigt. Im Krankenhaus selbst, in dem sich zum Unglückszeitpunkt rund 280 Patienten und das Personal aufgehalten hatten, waren mehrere Fensterscheiben zu Bruch gegangen.
Suche nach Vermissten gestaltete sich schwierig
Ausgerüstet mit schweren Atemschutzgeräten suchten die Wehrmänner im Haus und in den Trümmern nach den Vermissten. Gleichzeitig wurde der Kreisfeuerwehrinspekteur in Neuwied informiert, die Wehren Vettelschoß und St. Katharinen alarmiert und die Drehleiter der Freiwilligen Feuerwehr Bad Hönningen angefordert. Bei Erkundung des Geländes wurden unter anderem ein Triebwerk und Teile eines Hauptfahrwerks gefunden, wodurch feststand, dass ein Militärflugzeug der niederländischen Luftwaffe vom Typ F-16 über dem Roniger Hof abgestürzt und explodiert war. Dabei hatte es mit seiner rechten Tragfläche das Eckhaus gerammt und seinen Zusatztank verloren, der das Haus getroffen und durch 3000 Liter auslaufendes Kerosin sofort in Brand gesetzt hatte.
Nach Augenzeugenberichten hatte sich der Pilot der Maschine mit dem Schleudersitz retten können, weshalb in einem angrenzenden Wald, in dem die Maschine niedergegangen war, nach ihm gesucht wurde. Gegen 12 Uhr wurde der Linzer Wehr per Funk durch den Kreisfeuerwehrinspekteur mitgeteilt, dass das Flugzeug wie alle Militärmaschinen vom Typ F-16 einen Behälter mit 27 Litern des Raketentreibstoffs Hydrazin für ein Notaggregat an Bord hatte. Bei Hydrazin handelt es sich um ein Gemisch aus Stickstoff und Sauerstoff, eine farblose, an der Luft stark rauchende Flüssigkeit mit Ammoniakgeruch. Wird Hydrazin frei und vermischt sich mit Luft, verwandelt es sich in eine brennbare, ätzende, hochgiftige und sehr reaktionsfähige Flüssigkeit.
90 Einsatzkräfte waren an den Rettungsmaßnahmen beteiligt
Die Suchaktion im Wald wurde daraufhin sofort abgebrochen. Spezialeinheiten der Bundeswehr, ein SAR- und ein Polizeihubschrauber trafen am Unglücksort ein. Insgesamt waren rund 90 Einsatzkräfte von Feuerwehr, THW, DRK, Polizei und Bundeswehr an den Rettungsmaßnahmen beteiligt. Mittlerweile hatten die Feuerwehrkräfte die Brände schnell und erfolgreich bekämpfen können. Mithilfe eines in der Nähe arbeitenden Raupenbaggers wurden einsturzgefährdete Trümmer des Wohnhauses bis auf den Kellerboden abgetragen. Mit Suchhunden der Rettungshundestaffel Hamm/Sieg wurde weiter nach den vermissten Personen gesucht.
Mithilfe der Hunde wurde die Pächterin des im Erdgeschoss des Hauses befindlichen Schreibwarenladens, die 47-jährige Lieselotte Klevenhaus aus Dattenberg, tot geborgen. Fünf weitere zum Teil schwer verletzte Personen wurden im Linzer Krankenhaus versorgt. Bei den übrigen als vermisst geltenden Personen stellte sich heraus, dass sie sich zum Zeitpunkt der Katastrophe nicht am Unglücksort befunden hatten.
Messung verlief negativ
Zwischenzeitlich überprüfte die Flugplatzfeuerwehr Büchel das Gelände auf Spuren von Hydrazin. Da die Messergebnisse negativ ausfielen, konnte die Suche nach dem Piloten fortgesetzt werden; er wurde gegen 18.30 Uhr tot geborgen. Wenig später wurde im Wald der stark beschädigte Hydrazinbehälter gefunden. Von dem eigentlich berstsicheren Behälter waren nur noch Splitter übrig. Da Hydrazin ausgetreten war, mussten die Suchmannschaften das Fundgebiet sofort verlassen. Das gesamte Gelände wurde zum militärischen Sperrgebiet erklärt und weiträumig von deutschen und niederländischen Feldjägern und Soldaten abgeriegelt. Ein holländischer Militärarzt und Giftexperte ordnete an, dass die Leichenkammer des Linzer Krankenhauses, in dem die sterblichen Überreste der beiden Todesopfer aufgebahrt waren, nur mit Gasschutzkleidung betreten werden durfte. Alle am Einsatz beteiligten Rettungskräfte, Anwohner und andere Personen, rund 400 Menschen, mussten sich im Linzer Krankenhaus zwei Blutuntersuchungen im Abstand von acht Tagen unterziehen, die glücklicherweise bei allen Personen negativ ausfielen.
Probleme beim Einsatz analysiert
Einige Wochen nach dem Einsatz wurden bei einer Abschlussbesprechung unter Teilnahme von Vertretern von Feuerwehr, DRK, THW, Polizei, Kreisverwaltung und rheinland-pfälzischem Innenministerium Fehler des Einsatzes selbstkritisch analysiert und Verbesserungsmöglichkeiten diskutiert. Die Vertreter der Einsatzkräfte beklagten, dass es am Unglücksort Schwierigkeiten gegeben hätte zu erkennen, welche Zivilpersonen auch tatsächlich berechtigt waren, sich am Unglücksort aufzuhalten. So wurde etwa Josef Mertesacker, der mit kurz zuvor in Neuwied wieder aufgefüllten Atemschutzflaschen auf dem Weg zur Einsatzstelle war, an der Polizeiabsperrung aufgehalten. Er informierte die Beamten, dass er Feuerwehrmann sei, wurde aber dennoch nicht durchgelassen. Schließlich bat er die Polizisten, die Feuerwehr anzufunken und sich bestätigen zu lassen, dass er Feuerwehrmann sei und Atemschutzgeräteflaschen dabei habe. Daraufhin durfte er weiterfahren.
Auch nach dem Unfall gingen die Flüge weiter
Der Flugzeugabsturz am Roniger Hof hätte leicht eine deutlich höhere Zahl an Opfern fordern können. Der 28. Mai war jedoch kein Besuchstag im Linzer Krankenhaus, weshalb das Gelände, der Parkplatz und die angrenzenden Straßen weniger belebt waren wie üblich. Wegen des schlechten Wetters war auch der Kinderspielplatz hinter dem zerstörten Wohnhaus verwaist. Trotz der Katastrophe jagten am Morgen nach dem Unglück wieder Tiefflieger über die Stadt. Proteste von Verbandsbürgermeister Badem und Stadtbürgermeister Lück, die sogar drohten, die Tiefflieger mit dem Aufsteigen von Fesselballons zu behindern, hatten nur eine Unterbrechung der Flüge von wenigen Tagen zur Folge. Im Januar 1985 teilten die niederländischen Streitkräfte mit, ihre Tiefflüge über deutschem Gebiet auf ein Mindestmaß reduzieren und größtenteils nach Kanada verlegen zu wollen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs zu Beginn der 1990er-Jahre wurden Tiefflugeinsätze über der Bundesrepublik insgesamt drastisch reduziert.