Rochelle Ginsburg ist überwältigt. Eigentlich hat sich die 39-jährige New Yorkerin intensiv auf die Reise nach Deutschland und auf das Eintreffen im Heimatort ihres jüdischen Urgroßvaters Leopold Hecht vorbereitet. Als sie aber vor dessen Rengsdorfer Wohnhaus in der Westerwaldstraße 25 steht, ist das doch ein Moment, der sich jeglicher Planung entzieht. Bestürzung zeichnet sich auf dem Gesicht der Expertin für Marketing ab, als sie das Haus umrundet und Fotos macht. Rochelle Ginsburg weiß, dass dieser Tag ihr Leben verändern wird: Was sie jetzt nicht dokumentiert, das wird wahrscheinlich für immer in der Vergangenheit eingeschlossen bleiben.
Deshalb hat sie auch viele Fragen an Marie-Luise Dingeldey, die den zweitägigen Aufenthalt der Amerikanerin begleitet und ihr mit Rat und Tat zur Seite steht. Keine leichte Aufgabe für die Rengsdorfer Hobby-Historikerin: Zum einen spricht Rochelle Ginsburg nur ein paar Worte Deutsch, zum anderen kann nicht jede ihrer Erwartungen erfüllt werden. Zu gern wüsste Leopold Hechts Urenkelin nämlich, ob es auf dem Dachboden noch Briefe oder andere historische Relikte gibt. Sie weiß, das das Leben ihres Urgroßvaters tragisch endete, doch sie möchte mehr darüber erfahren, wie er die Ausgrenzung der Juden erlebt hat.

Kurzer Rückblick: Leopold Hecht (geboren am 21. März 1877 als jüngstes Kind von Elias und Rosette Hecht) wollte Bäcker werden, ließ sich dann aber von einer behördlichen Karriere überzeugen. Der mit Emma Fuldheim verheiratete „Ur-Rengsdorfer“ war Büroleiter des dortigen Amtes, bis er 1933 mit 56 Jahren gezwungen wurde, den Ruhestand zu beantragen. 1935 zog er mit seiner Familie nach Köln. Die Söhne Berthold und Herbert konnten nach Palästina auswandern, Leopold Hecht erschoss sich 1937. Emma Hecht wurde 1942 nach Theresienstadt und 1944 nach Auschwitz deportiert, wo sie 58-jährig starb.
Eine entsetzliche Geschichte, die Rochelle Ginsburg seit Jahren beschäftigt und die sie mit deutlich mehr Informationen füllen möchte. Deshalb klingelt sie spontan, aber vergebens an der Tür des Geburtshauses ihres Urgroßvaters. Marie-Luise Dingeldey versichert der Nachfahrin, dass alles Vorhandene bereits gesichtet wurde. So recht glauben mag Rochelle Ginsburg das nicht, aber sie lässt sich trotzdem zum Rundgang durch den Ort einladen. Schließlich gibt es noch mehr Gebäude, die mit der Familie Hecht in Verbindung stehen. Unterwegs erzählt Marie-Luise Dingeldey von den Forschungen, die sie seit Jahren zu den jüdischen Familien in Rengsdorf anstellt, und bleibt unter anderem vor dem Haus in der Kirchstraße 10 stehen. Dort hat Leopolds Bruder Jacob mit Familie gelebt – wieder eine Station, die etliche Fragen aufwirft.
Mit bewegenden Erlebnissen auf Kreuzfahrt
Bei der Verschnaufpause im „Café Cicero“ verliert Rochelle Ginsburg dann die Fassung. Auf die Frage unserer Zeitung, wie es sich anfühlt, zu den Wurzeln ihrer Familie zurückzukehren, fängt sie bitterlich an zu weinen. „Ich frage mich einfach, wie mein Urgroßvater und seine Familie gelebt haben, worüber sie sich gefreut haben oder was sie gesehen haben, wenn sie vom Balkon des Hauses in die Umgebung geschaut haben.“ Über Generationen hinweg sei nicht über die Geschehnisse gesprochen worden. Teils sei die Familie nicht dazu fähig gewesen, teils habe es an Informationen gemangelt.

Zum Abschluss tauscht sich Rochelle Ginsburg mit Marie-Luise Dingeldey über den Stammbaum der Familie Hecht aus, aber auch über das Zustandekommen des Kontakts nach Rengsdorf. Auslöser sei letztlich ein Artikel über jüdische Schicksale vor Ort gewesen, den Marie-Luise Dingeldey in einem Heimatjahrbuch veröffentlicht hatte und der Rochelle Ginsburgs Familie über den Forscher Ted Tobias (ehemals Anhausen) erreichte – ein Glück für alle Beteiligten. Am Folgetag wird Rochelle Ginsburg noch bei VG-Bürgermeister Hans-Werner Breithausen und Ortsbürgermeister Marc Dillenberger empfangen, dann geht sie von Hamburg aus auf Kreuzfahrt – erfüllt von bewegenden Erlebnissen auf ihrer Spurensuche.