Melsbach
Im Ü-80-Team beim härtesten Radrennen der Welt: Melsbacher fährt quer durch die USA
Georg Müller-Sieczkarek

Acht Beine, 321 Lebensjahre, 5000 Kilometer: Zwei Ultrasportler aus Melsbach und Emmelshausen starten im Juni in einem Viererteam beim härtesten Radrennen der Welt. Sie sind das älteste Team in der Geschichte des Race Across America.

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Georg Müller-Sieczkarek

Annapolis, das Seglerparadies im US-Staat Maryland im Juni 2018: Vier Männer gesetzteren Alters aus NRW sind unterwegs zu einer Siegerparty. Sie haben sich das eine oder andere Bier redlich verdient. Roland Fuchs, Paul Thelen, Ulrich Reich und Rolf Nett sind gerade als Vierermannschaft mit dem Rennrad 5000 Kilometer nonstop quer durch die USA gefahren. Im Ziel blieb die Uhr bei sieben Tagen, elf Stunden und 14 Minuten stehen. Das Race Across America (RAAM) gilt als der härteste Roadtrip auf zwei Rädern, es ist wie der Mount Everest für Ultraradler.

Und an diesem Abend wartet das Quartett auf die Siegerehrung – denn jeder, der das schafft, ist ein Sieger. Ihr erster Gedanke: Schade, dass es vorbei ist. Der zweite: In fünf Jahren machen wir das noch einmal. In fünf Jahren – das heißt 2023. Also stehen am 17. Juni erneut Paul Thelen aus Würselen und Roland Fuchs aus Stolberg wieder an der Startlinie im kalifornischen Oceanside, diesmal zusammen mit zwei Rheinland-Pfälzern: Horst Luckey aus Melsbach und Fritz Hager aus Emmelshausen. Alle vier sind dann Ü 80 – und mit zusammen 321 Jahren das älteste Team in der Geschichte des herausfordernden Rennens.

System, Disziplin, Ausdauer, Willenskraft. Das sind die vier Zutaten für den Erfolg eines jeden Projektes. Gemeinsam haben wir so viel davon, dass wir die Herausforderung meistern werden.

Horst Luckey

Horst Luckey ist schon jetzt Feuer und Flamme. Täglich sitzt er auf dem Rennrad oder seinem schicken Hometrainer. Letzterer ist technisch gesehen auf dem obersten Level. Dank angeschlossener Software kommt beim Strampeln in den eigenen vier Wänden keine Langeweile auf, weil man sich vernetzt mit anderen Radfahrern auf der ganzen Welt messen kann. „Ohne das wäre mir das viel zu langweilig“, erzählt Luckey.

Für den Melsbacher ist derzeit also Trainieren angesagt, denn ohne Ausdauerfähigkeit sind die Aussichten, beim RAAM die Ziellinie zu sehen, nicht so rosig. „So ein Vorhaben geht man ganz sicher nicht unüberlegt an“, sagt er. Dabei ist der ehemalige Fachzahnarzt, der von 1993 bis 2013 Vorsitzender des Verbandes deutscher Oralchirurgen war, schon immer sportbegeistert. Tennis, Tauchen, Paragliding, Skifahren, Mountainbiken und eben Rennradfahren – Horst Luckey ist sportlich vielseitig. Er paddelte auch schon einmal 800 Kilometer den Yukon River in Kanada hinunter.

Umstieg aufs Rennrad in fortgeschrittenem Alter

Als Mountainbiker knüpfte er schließlich Kontakte zum Radrennclub Buchholz. „Vor allem im fortgeschrittenen Alter habe ich das Rad und damit auch das Rennrad intensiver genutzt“, erzählt er. Es dauerte nicht lange, und der heute 80-Jährige riss seinen ersten „langen Kanten“ ab. „Wir sind in der Gruppe von Santiago nach Bilbao gefahren, dann kamen Ausflüge an die Mosel von 200 bis 300 Kilometer Länge dazu“, erzählt Luckey. 2019 wagte er sich an die 543 Kilometer lange Tour von Trondheim nach Oslo, die er in 28 Stunden ohne Pause bewältigte. Schließlich standen Paul Thelen und Roland Fuchs bei ihm auf der Matte und fragten, ob er zum Team für das RAAM 2023 gehören wolle.

Luckey sieht das Team gut gerüstet: „System, Disziplin, Ausdauer, Willenskraft. Das sind die vier Zutaten für den Erfolg eines jeden Projektes“, sagt er und ergänzt: „Gemeinsam haben wir so viel davon, dass wir die Herausforderung meistern werden.“

Seine drei Mitstreiter sind demzufolge vom gleichen Schrot und Korn wie Horst Luckey. Fritz Hager, Jahrgang 1942, aus Emmelshausen sprengt dabei jedoch alle Dimensionen. „Das ist ein positiv Verrückter. Ich habe nie zuvor davon gehört, dass einer 60.000 Kilometer im Jahr Rad fährt, Wahnsinn!“, schüttelt Luckey nur den Kopf. Das dürfte in dieser Altersklasse einsamer deutscher Rekord sein. Der aus Neuwied stammende Profi Max Walscheid bringe es auf etwa 30.000 Kilometer pro Jahr, führt Luckey zum Vergleich an.

Sie stehen vor einem großen Abenteuer (von links): Friedrich Hager, Horst Luckey, Roland Fuchs und Paul Thelen. Fotos: Georg Müller-Sieczkarek
Georg Müller-Sieczkarek

Hager, der als Maschinenbauer und Manager einst die Verantwortung für Fabriken in den USA und in Deutschland trug, kam erst mit 50 Jahren zum Radsport. Seither hat ihn das Kurbeln nicht mehr losgelassen. „Ich bin ein Individualist“, sagt er – und wagt dennoch das große Gemeinschaftserlebnis. Mit 81 Jahren wäre er dann der älteste RAAM-Finisher.

Roland Fuchs und Paul Thelen haben den anderen beiden schon etwas voraus: Sie wissen, wie es sich anfühlt, das RAAM erfolgreich beendet zu haben. Und auch ihre sportliche Vita liest sich wie ein Buch der Rekorde.

Während Fuchs als Krebsspezialist, der mit 79 Jahren noch an der Uni Aachen forscht, diverse Radmarathons in vieler Herren Länder absolvierte und den Köln-Marathon im Sommer „aus dem Stand“ gelaufen war, gilt Paul Thelen als der nimmersatte Abenteurer. Motorsport, Langstreckenlauf, Bergsteigen, Radfahren, unter anderem kraxelte er den Mount Everest bis auf 8000 Meter hinauf und legte mehr als 30 Bergbesteigungen in der Kategorie „6000 Meter plus weltweit“ hin. Thelen verfährt stets nach der Maxime: „Wenn du in einer Sache Meister geworden bist, beginne in einer neuen Sache als Schüler.“

Die Teilnahme ist ein Teamprojekt

Das Abenteuer RAAM 2023 ist bei alledem aber immer noch ein Teamprojekt. 14 Frauen und Männer fliegen mit den Fahrern in die Staaten. Sie fahren die XL-Wohnmobile und die Begleitautos, kochen, kaufen ein, halten die Stimmung hoch, kümmern sich um die Radtechnik, die Kommunikation, die Medien und um müde Beine. Michael Schell hat als Crewchef den Hut auf, Rolf Nett, der 2018 noch selbst als Fahrer dabei war, macht den Stellvertreter und sportlichen Leiter. Zusammen sagen sie der Truppe, wo’s langgeht.

Mentor und Coach hinter dem Projekt ist Unternehmer und Extremsportler Hubert Schwarz (68). „Mit Willen, Leidenschaft und Mut kann man viel mehr erreichen, als einem andere zutrauen”, sagt er. Und er weiß, wovon er spricht: Schwarz ist beim RAAM neun Mal ins Ziel gefahren, 1991 als erster Deutscher. Er fuhr mit dem Rennrad in 80 Tagen um die Welt und einmal rund um Australien. Ihm imponiert die Art, mit der die Vier nach dem Motto „lieber Fahrradsattel als Rollstuhl“ die Sache angehen. „Bemerkenswert, wie fit die alten Knaben sind“, sagt Schwarz.

Das haben die „Knaben“ nun auch schriftlich. Nach einer Leistungsdiagnostik attestierte der Koblenzer Mediziner Rüdiger Walscheid dem Quartett tipptopp Werte. Noch zwei Monate bis zum Start in Kalifornien, der Countdown läuft.

Mit ein paar Fahrradfreaks fing alles an

Die RAAM-Historie reicht zurück bis ins Jahr 1982. Damals gingen beim Great American Bike Race, wie es ursprünglich hieß, vier Fahrradverrückte in Los Angeles an den Start, unter ihnen RAAM-Gründer John Marino. Sieger Lon Haldeman rollte nach neun Tagen, 20 Stunden und zwei Minuten in New York über die Ziellinie.

Seither ist aus dem Spaß von ein paar Freaks ein hochprofessionelles Event mit beträchtlichem Medienecho und generalstabsmäßiger Planung geworden. Das Route Book ist dabei die Bibel der Racer und ihrer Helfer. In dem Wälzer, der alljährlich neu aufgelegt wird, ist jede Kreuzung, jede Steigung, jede Ampel und alle der mehr als 50 Kontrollstellen zwischen Kalifornien und Maryland aufgelistet. Ausgerollt ist das Streckenprofil des RAAM gut und gern zehn Meter lang.

Die Dimensionen des Rennens kann man auch anders beschreiben. Zwölf Bundesstaaten, 350 Orte und Städte, vier Zeitzonen, drei Gebirge. 14 Klassen, vom Solostarter bis zum Achterteam, rund 300 Fahrer, an die 1000 Begleiter im Tross. 800 Kilometer länger als die Tour de France, dafür in knapp der Hälfte der Zeit gefahren.

Von Kalifornien bis nach Maryland

Die Route von Küste zu Küste hat sich im Laufe der Zeit oft geändert. Seit einigen Jahren ist der Verlauf aber in etwa gleich. Es geht durch zwölf Bundesstaaten – Kalifornien, Arizona, Utah (wenige Meilen), Colorado, Kansas, Missouri, Illinois, Indiana, Ohio, West Virginia (wieder nur wenige Meilen), Pennsylvania und Maryland; über drei Gebirge – die Coast Range in Kalifornien, die Rocky Mountains (mit dem Wolf Creek Pass auf 3300 Meter Meereshöhe als dem Dach der RAAM-Tour) und die Appalachen; über schnurgerade Straßen, auf denen erst nach 40 Meilen die nächste Kurve kommt, durch die grandiose Westernkulisse des Monument Valley, durch gottverlassene Nester, in denen nachts nicht eine einzige Glühbirne brennt, durch Backofenhitze, Platzregen und Eiseskälte.

Es geht vorbei am Salton Lake, der 60 Meter unter dem Meeresspiegel liegt, und durch ein Kaff namens Congress in Arizona, das nur so aussieht, als läge es „in the middle of nowhere“. Denn Congress liegt 37 Meilen südwestlich von Nowhere, 39 Meilen südöstlich von Nothing, 89 Meilen östlich von Somewhere und 67 Meilen hinter Hope – alle diese Orte existieren tatsächlich.

Von Georg Müller-Sieczkarek

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