Ablenkung in der Krise - Neuwieder Rentner baut Modellbahnanlage im Wohnzimmer
Endstation für die Corona-Depression: Neuwieder Senior baut Eisenbahnlandschaft ins Wohnzimmer
1800 Euro, etwa 300 Meter Kabel und unzählige Arbeitsstunden hat Waldemar Reuschenbach in seine 25 Quadratmeter große Modellbahnanlage gesteckt. In knapp vier Monaten wandelte sich das Wohn- zum Modellbahnzimmer und das soll auch nach der Corona-Pandemie so bleiben. Foto: Tim Saynisch
Tim Saynisch

Neuwied. Was würden sie machen, wenn es in ihrer Wohnung qualmt, poltert und zischt? Vermutlich die 112 wählen, damit die Feuerwehr zu Hilfe eilt. Für Waldemar Reuschenbach ist diese Situation kein Grund zur Sorge, nein, für ihn ist die industriell anmutende Geräuschkulisse in den eigenen vier Wänden Alltag. Kleine Lokomotiven im Maßstab H 0 rattern dort über zwei Gleiskreisläufe und einige qualmen dabei tatsächlich aus ihren Schornsteinen oder imitieren die Geräusche ihrer realen Vorbilder. Auf 25 Quadratmetern Grundfläche hat der 79-Jährige eine Modellbahnanlage in das ehemalige Wohnzimmer seiner Mietswohnung gebaut. Die Idee dafür hatte er schon länger, es brauchte aber erst eine Initialzündung sie umzusetzen: die Corona-Pandemie.

Vor Jahren hatte Reuschenbach bereits eine Modelleisenbahn im Keller, irgendwann aber die Muße für das Projekt verloren. Im vergangenen Jahr kam dann die Idee in ihm auf, eine neue Bahn zu bauen. „Mir fehlte aber die Courage, das Wohnzimmer dafür auszuräumen. Schließlich ist das ja schon eine große Veränderung“, erklärt der Rentner. Seit zehn Jahren, seine Frau verstarb, wohnt Reuschenbach allein in seiner 70-Quadratmeter-Wohnung. Das Wohnzimmer hat er schon lange nicht mehr genutzt. Mit Beginn der Corona-Krise fasste er schließlich den Mut, seinen Plan in die Tat umzusetzen: „Ich gehe momentan nur selten vor die Tür, nicht unter Leute, und mein Sohn versorgt mich mit Lebensmitteln. Da ich hier nicht weg kann und will, habe ich mir eine Ablenkung gesucht. Ich kann ja nicht den ganzen Tag nur dasitzen und Zeitung lesen.“

Das Wohnzimmer stand in seinem Kopf als Standort längst fest. „Ich habe mir gedacht, ehe ich morgen oder übermorgen die Treppe nicht mehr laufen kann, baue ich die Bahn da rein. Ich brauche das Zimmer ja eh nicht“, sagt er.

Ende Februar, Anfang März kauft er also alles für den Bahnbau, von Holzplatten über 300 Meter Kabel bis hin zu Gips und Stoffmatten, um einen Berg zu modellieren. 1800 Euro Materialkosten investiert der Bastler. „Von meiner alten Bahn aus dem Keller konnte ich nichts mehr nehmen, davon war vieles feucht. Aber die Loks und Waggons habe ich natürlich noch“, sagt Reuschenbach.

Und Loks hat er reichlich, über 80 Fahrzeuge umfasst seine Sammlung. Dabei sind die eingangs erwähnten Dampfloks aber nicht seine Lieblingsstücke. „Ich bin ein großer Fan des Krokodils und der Diesellok V 200. Generell bin ich eher ein Diesel-Fan“, bilanziert der Modellbauer. Von der V 200, die ab Mitte der 1950er-Jahre ein gewohntes Bild auf dem westdeutschen Schienenetz war, hat der Sammler gleich mehrere Modelle. Damit die Anlage diese Zeit stimmig auffängt und die Loks gut in Szene setzt, hat er auf viele Details geachtet.

Da sind beispielsweise ein altes Tempo-Dreirad und ein VW T 1 mit Blaulicht im typischen dunklen Polizeigrün der 50er, die nebeneinander am Bahnübergang warten, und auch ein alter Mercedes Gelenkbus, mehrere VW-Pritschenwagen, Fachwerkhäuser und viele weitere Oldtimerkarossen finden sich maßstabsgetreu auf der Anlage. Technische Finessen, wie ein angestrahltes Gipfelkreuz, eine Kirchturmuhr mit elektrischem Glockenwerk, der qualmende Schornstein einer Almhütte, ein Wasser spuckender Brunnen und mehrere bewegliche Kirmesfahrgeschäfte runden das Bild ab.

Den Rummelplatz mit Riesenrad, Kettenkarussell, Schießbude und Süßigkeitenstand zu integrieren, war Reuschenbach eine Herzensangelegenheit: „Ich bin gelernter Elektriker, war lange bei den SWN beschäftigt und habe über 40 Jahre Kirmesfahrgeschäfte auf den städtischen Plätzen ans Stromnetz angeschlossen, ein Rummel musste einfach sein.“

Wie viele Stunden er in sein Projekt gesteckt hat? „So etwas zählt man nicht mit. Ich habe jeden Tag was gemacht und aufgehört, wenn mich die Lust verlassen hat. Dann habe ich am Folgetag weitergemacht“, sagt der Bastler. Von der Familie hat er in den vergangenen Monaten immer den Rücken gestärkt bekommen: „Mein Sohn liebt die Anlage. Immer wenn er kommt, hat er ein paar Ideen für mich. Außerdem hilft er mir Kleinteile zu verkleben und hat mir sogar den großen Bahnhof geschenkt, der jetzt auf der Anlage steht.“

In der Zimmerecke hat sich Reuschenbach ein wenig Patz gelassen, dort soll noch ein kleiner Tisch hin: „So eine Anlage ist nie fertig, ich möchte jetzt etwa noch eine Spur in die Straße einbauen, auf der Autos und Lkw fahren können. Wenn was zu reparieren ist, mache ich es dann direkt am Werkstatttisch. Die Bahn bleibt auf jeden Fall auch nach Corona stehen – so lange, bis ich endgültig die Augen zu mache.“

Von unserem Reporter
Tim Saynisch

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