Serie zur Stadtgeschichte
Die Industrialisierung verwandelt Neuwied
Ein 1888 aufgenommenes Foto zeigt die Fabrikanlagen der Firma Rasselstein vom Weißen Berg in Niederbieber aus.
Stadtarchiv Neuwied

Im 19. Jahrhundert hält die industrielle Revolution im Neuwieder Becken Einzug - und eine Zeit beginnt, in der wirtschaftlich, verkehrstechnisch, aber auch sozial vieles in Bewegung kommt.

Im 18. Jahrhundert hat Neuwied durch Manufakturen wie die Kunsttischlerei von Abraham und David Roentgen eine wirtschaftliche Blüte erlebt. Auf diese Weise setzte in der Stadt bereits eine vorindustrielle Entwicklung ein. Nachdem sich die politische Situation im Anschluss an den Wiener Kongress 1815 auch in Neuwied wieder stabilisiert hatte, folgte ein erneuter Aufschwung für Gewerbe, Handel und Verkehr, und die industrielle Revolution hielt im Laufe des 19. Jahrhunderts im Neuwieder Becken Einzug.

Viele Fabriken entstehen in Neuwied

Schon 1738 war von Graf Johann Friedrich Alexander die Eisenhütte Rasselstein gegründet und 1787 vom Unternehmer Heinrich Wilhelm Remy übernommen worden. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich das Werk laut Friedel-Wulf Kupfers „Unter Neuwieder Dächern“ zu einer der bedeutendsten Stahlfabriken Deutschlands.

Dazu gesellten sich zahlreiche weitere Fabriken, vor allem aus den Bereichen Metallverarbeitung, Maschinenbau und Papierindustrie – Beispiele sind das Hütten- und Walzwerk Albion, das im Zuge der Übernahme durch Buderus in Germaniahütte umgetauft wurde, die nach dem Fürsten Hermann zu Wied benannte Hermannshütte, das 1843 gegründete Werk Augustenthal der Firma Boesner, die Couvertfabrik Willy Strüder und die Firma Lohmann, die sich 1899 im Feldkirchener Ortsteil Fahr ansiedelte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wuchs der Industriestandort Neuwied weiter an, und das Furnierwerk Hobraeck, die Mauser-Werke, Reuther Verpackung, die Maschinenfabrik Winkler & Dünnebier sowie die später von Dyckerhoff-Zement übernommenen Wickingwerke entstanden.

Das Wappen der Stadt Neuwied.
Stadt Neuwied

Besonders prägend für die hiesige Industrie waren die Bodenschätze des Neuwieder Beckens. Durch den Ausbruch des Laacher-See-Vulkans vor rund 13.000 Jahren entstanden in der Region reichhaltige Vorkommen an Vulkangesteinen wie Bims und Basalt, die ab der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in Neuwied im großen Stil abgebaut wurden. Schon im 18. Jahrhundert wurde hier ein Baustein aus Bims hergestellt, der sogenannte Engerser Sandstein.

Etwa 100 Jahre später begann in Neuwied die industrielle Herstellung von Schwemmstein. Dabei handelte es sich um Mauersteine aus Bims und Kalk, die deutschlandweit und sogar ins Ausland geliefert wurden. Zu den führenden Firmen der Bimsindustrie gehörten die Schwemmstein- und Zementwarenfabrik Paul Raab, die 1870 von Friedrich Remy erworbene Schwemmsteinfabrik Neuwied, die Firma Paul Dahm sowie die Heimbachwerke. Der Bimsabbau florierte bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, inzwischen gelten die Neuwieder Bimsvorkommen als fast erschöpft.

Verkehr auf dem Fluss und auf der Schiene

Mit der zunehmenden Industrialisierung entwickelte sich auch die Neuwieder Verkehrsinfrastruktur weiter. So gab es laut „Neuwied. Schloss und Stadtkern“ ab 1817 eine Gierseilfähre, die Neuwied mit dem linken Rheinufer verband. 1823 wurde der Neuwieder Hafen eröffnet, denn der Rhein war eine wichtige Verkehrs- und Transportader, auf der nun statt Segelschiffen vorwiegend Dampfschiffe unterwegs waren.

Das Schärjerdenkmal in der unteren Mittelstraße zeigt einen typischen Neuwieder Hafenarbeiter und seine mit Bimssteinen beladene Schubkarre.
Sonja Kowallek

Beladen wurden die Rheinschiffe von den Näiwidder Schärjern. Diese Hafenarbeiter transportierten Bimssteine und andere Schiffsgüter in ihrer Schubkarre, genauer gesagt einer einrädrigen Schürreskarre, die mundartlich Schärskaa genannt wird. Am Alten Zollhaus in der Mittelstraße erinnert das Schärjerdenkmal an den Beruf, der vom 17. Jahrhundert bis in die 1930er-Jahre ausgeübt wurde.

An die Eisenbahn erhielt Neuwied ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls Anschluss. 1858 wurde die linksrheinische und 1869 die rechtsrheinische Eisenbahnstrecke eröffnet, 1884 folgte die Eröffnung der Strecke Engers-Altenkirchen und 1918 die Fertigstellung der Eisenbahnbrücke zwischen Engers und Urmitz. Jürgen Moritz, der 14 Jahre lang hauptamtlicher Beigeordneter der Stadt Neuwied war, interessiert sich seit seiner Jugend für die Eisenbahn. Zu deren Stellenwert für Neuwied erklärt er: „Die Bahn bedeutete den Anschluss an die große Welt. Sie war ein zentraler Transportweg für die Bimsindustrie, denn so wurden Rohstoffe angeliefert und Produkte weiterbefördert. Natürlich war das zum Teil auch mit dem Schiff möglich, aber eben noch nicht mit dem Auto oder Lkw.“

Ein Schlackenbähnchen transportierte zu Beginn des 20. Jahrhunderts Schlacken, also erstarrte Schmelzrückstände, von der Mühlhofener Hütte bei Bendorf zum Engerser Rheinufer.
Stadtarchiv Neuwied

Moritz berichtet außerdem, dass einige Firmen sogenannte Feldbahnen nutzten, um Bims abseits der Eisenbahnschienen zu transportieren. „Die Gleise dieser schmalspurigen Bahnen konnten flexibel immer wieder neu verlegt werden. Und umweltfreundlich waren sie auch, denn für die Feldbahnen musste der Boden nicht verdichtet oder versiegelt werden“, so Moritz.

„Die Bahn bedeutete den Anschluss an die große Welt.“
Jürgen Moritz über die Eisenbahn in Neuwied

Als begeisterter Modelleisenbahnbauer hat Moritz unter dem Titel „Stadtgeschichte zum Ausschneiden“ zahlreiche Bastelbögen herausgegeben, mit denen historische Neuwieder Fahrzeuge und Gebäude nachgebaut werden können. Sie sind abrufbar auf den Internetseiten der Stadt.

Trotz der wirtschaftlichen Blüte und des infrastrukturellen Fortschritts war das 19. Jahrhundert für die Neuwieder allerdings auch eine krisenreiche Zeit, und Missernten und Armut veranlassten Auswanderungsströme in Richtung Nord- und Südamerika. Der Not der Bauern und der Landbevölkerung nahm sich Friedrich Wilhelm Raiffeisen an. 1818 in Hamm an der Sieg geboren, begann er seine Karriere als Bürgermeister von Weyerbusch und Flammersfeld, wo er bereits erste Selbsthilfevereine gründete.

Die Idee des Genossenschaftsmodells, das seinen Mitgliedern nach dem Motto „Was einer allein nicht schafft, das schaffen viele“ durch gegenseitige Unterstützung finanzielle Sicherheit bietet, baute Raiffeisen während seiner Zeit als Heddesdorfer Bürgermeister (1852-1865) weiter aus. Mit der Gründung des „Heddesdorfer Darlehnskassenvereins“ (1864) und der „Rheinischen Landwirtschaftlichen Genossenschaftsbank“ (1872) initiierte er, unterstützt vom Fürstenhaus, wegweisende soziale Reformen, die weltweit zum Vorbild zahlreicher Genossenschaftsbanken und Selbsthilfeorganisationen wurden, wie der Journalist Bernd Paetz in „Neuwied im Spiegel der Zeit“ betont.

Neben dem Roentgen-Museum erinnert ein Denkmal an den Genossenschaftsgründer und Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818-1888).
Sonja Kowallek

Zu dieser Zeit war Heddesdorf noch ein eigenständiges Dorf und gehörte nicht zur Stadt Neuwied, was sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts jedoch ändern sollte: In den vergangenen 90 Jahren hatte sich die Bevölkerungszahl Neuwieds fast verdreifacht, von 4000 Einwohnern im Jahr 1810 auf 11.000 im Jahr 1900. Dagegen hatte sich die Fläche Neuwieds nicht stark verändert, sodass man durch die Eingemeindung Heddesdorfs eine deutliche Flächenerweiterung für die beengte Stadt erreichen wollte.

Die selbstbewusste Heddesdorfer Bevölkerung, die mit der ersten urkundlichen Erwähnung im Jahr 962 auf eine weitaus längere Tradition als die Stadt Neuwied zurückblickte, war von der Idee dieses Zusammenschlusses allerdings wenig begeistert. Schließlich war eine offizielle Anordnung des deutschen Kaisers Wilhelm II. nötig, um 1904 die Vereinigung von Neuwied und Heddesdorf durchzusetzen.

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