Kreis Neuwied
Corona an Rhein und Wied: Was die Pandemie mit unseren Kindern macht
Auch in der Hausaufgabengruppe des Diakonischen Werks im Raiffeisenring halten die Kinder Abstand zueinander – Geschwister dürfen natürlich enger beieinander arbeiten. Hier wie überall hat die Corona-Pandemie auch auf das Leben der Kleinsten viele vor allem negative Einflüsse.
Rainer Claaßen

Kreis Neuwied. Auch Kinder leiden unter der Corona-Pandemie - anders als ihre Eltern, aber häufig kaum weniger schwer. Wir haben mit Experten in und um Neuwied über die Folgen gesprochen.

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Zu Beginn des Lockdowns im März entwickelte sich eine dramatische Dynamik: Innerhalb von wenigen Tagen mussten die meisten Läden schließen, die Gastronomie ebenfalls. Während viele Erwachsene weiterhin zur Arbeit gingen oder zumindest im Homeoffice in Kontakt mit Kollegen und Kunden bleiben konnten, waren die Veränderungen für Kinder massiv: Die Betreuung im Kindergarten und auch der Schulunterricht wurden innerhalb weniger Tage eingestellt. Das gemeinsame Spielen mit Freunden oder Besuche bei Verwandten waren plötzlich nur noch mit großen Einschränkungen möglich. Wie hat sich das auf die Psyche und das Wohlbefinden der Kinder ausgewirkt? Wir haben bei Experten an Rhein und Wied nachgehört.

Gabriele Jung-Stertz ist Vorsitzende des Kinderschutzbundes Neuwied, der auf der Heddesdorfer Straße das Regenbogenhaus betreibt. Im offenen Kindertreff kommen hier Kinder und Jugendliche im Alter von 6 bis 14 Jahren zum Spielen und zum Austausch zusammen. Das Angebot musste eine Zeit lang eingestellt werden, steht inzwischen aber unter Auflagen wieder zur Verfügung. Jung-Stertz stellt fest, dass die Kinder sehr unterschiedlich mit den Veränderungen umgegangen sind: „Es ist wichtig, Kindern nachvollziehbar zu erklären, welche Maßnahmen durchgeführt werden und welchen Sinn die haben. Dann sind sie in den meisten Fällen sehr verständnisvoll und gewöhnen sich oft schneller an neue Verhaltensweisen als Erwachsene. Wir haben etwa das regelmäßige Händewaschen spielerisch vermittelt. Das hat hervorragend geklappt.“ Ob Kinder die Pandemie als starke Bedrohung wahrgenommen haben, hängt nach ihrer Erfahrung stark davon ab, wie die Familie damit umgeht – und umgehen kann: „Teilen viele Menschen wenig Platz miteinander, ist das gerade für Kinder oft besonders schwierig. Wenn sich die Eltern dann auch wenig um die Kinder kümmern, sie eventuell dauerhaft vor dem Fernseher oder dem Smartphone parken, kann das zu echten Problemen führen. Kümmern sich Eltern hingegen um die Kinder und gehen auf deren Bedürfnisse ein, kommen sie oft selbst mit großen Belastungen gut klar“, sagt die Sozialpädagogin.

Warnsignale richtig deuten

Wer den Eindruck hat, dass Kinder Hilfe benötigen, kann sich entweder an einen Kinderarzt oder telefonisch an das Johanniter-Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuwied wenden. Dort gibt es unter der Rufnummer 02631/394 40 Hilfe. Außerhalb der Bürozeiten steht die Notfallnummer 02631/ 394 49 28 zur Verfügung. Anzeichen für eine Situation, in der Hilfe benötigt wird, können Gereiztheit, Schlafstörungen, Kopf- oder Bauchschmerzen sein. Auch wenn ein Kind sich in der Schule zurückzieht, gar nicht mehr zur Schule gehen möchte oder sich von Freunden distanziert, können das Warnsignale sein.

Ähnlich sieht es Dr. Kerstin Hessenmöller, die im Zentrum der Johanniter am Carmen-Sylva-Garten Kinder betreut. Sie zitiert eine aktuelle Studie, nach der sich 70 Prozent der Kinder durch die Pandemie belastet fühlen. Aus eigener Erfahrung kann sie das bestätigen: „Bei etwa zwei Dritteln der Kinder, die aktuell zu uns kommen, ist eine verminderte Lebensqualität und eine Beeinträchtigung des psychischen Wohlbefindens festzustellen. Viele Kinder sind gereizt und gestresst“, schildert Hessenmöller und spricht von Enttäuschungen, die derzeit hinzukommen: „Viele haben sich darauf gefreut, durch die Schulöffnung jetzt ihre Freunde wieder zu treffen – aber die Maßnahmen verhindern weiterhin die gewohnte Form der Nähe. Das macht sich in einer weit verbreiteten Unruhe bemerkbar. Bei vielen Kindern treten Bauch- oder Kopfschmerzen und Probleme mit dem Einschlafen auf. Auch Hyperaktivität, emotionale Probleme und Verhaltensprobleme haben wir häufiger beobachtet.“

Einige Kinder haben aber auch positive Erfahrungen durch die Pandemie gemacht, stellt Hessenmöller fest. Etwa, wenn deren Eltern sich mehr Zeit als sonst für sie nehmen konnten. Oder wenn die freiere Zeiteinteilung dem eigenen Lebensrhythmus mehr Raum gegeben hat. Bei Kindern, die mit ADHS leben, hat Hessenmöller sogar den Eindruck, dass sich die positiven und die negativen Auswirkungen ungefähr die Waage halten. Kinder reagieren nach ihrer Einschätzung vor allem auf das Verhalten von erwachsenen Ansprechpartnern in der Familie. Sind die gestresst, überträgt sich das entsprechend auf die Kinder.

Erleichtert ist die Ärztin, dass es zumindest keine klaren Hinweise auf eine Zunahme der häuslichen Gewalt in den vergangenen Monaten gibt – auch wenn sie befürchtet, dass hier viele Fälle nicht nach außen dringen. Deutliche Signale nimmt sie hingegen bei den Essstörungen wahr. Die haben nach ihrer Einschätzung um etwa ein Drittel zugenommen. Einige Kinder im Landkreis mussten damit sogar intensivmedizinisch behandelt werden. Eine Ursache dafür sieht sie in der vermehrten unkritischen Internetnutzung. Dort finden sich Angebote, die zum Beispiel eine Veranlagung zur Magersucht weiter unterstützen können. Die Ärztin empfiehlt deshalb, mit den Kindern zu besprechen, was sie sich im Internet anschauen.

Das Diakonische Werk im Evangelischen Kirchenkreis Wied bietet im „Treff am Ring“ eine Hausaufgabenhilfe an. Die musste zu Beginn der Krise zwar auch eine Zeit lang schließen, ist nun aber – mit einigen Einschränkungen – wieder geöffnet. Fragt man die Kinder dort, wie sie die vergangenen Monate und die aktuelle Situation wahrnehmen, gehen die Antworten alle in die gleiche Richtung: Die Kinder sind traurig, dass sie Freunde und Verwandte nicht wie gewohnt sehen können. Und sie wirken insgesamt spürbar gedrückt. Sehr diszipliniert sitzen sie an den Tischen, an denen nur Geschwisterkinder in direkter Nähe arbeiten dürfen. Zu den anderen Kindern muss Distanz gehalten werden. Kommt die unterstützende Pädagogin zu einem Arbeitstisch, um Fragen zu beantworten, müssen beide die Masken aufsetzen. Das geschieht schon mit viel Routine – und doch ist klar zu spüren, dass das disziplinierte Verhalten kaum der Natur der Kinder entspricht. Entsprechend gibt es auch einen Satz, den alle Kinder sagen: „Ich bin froh, wenn diese Corona-Zeit vorbei ist.“

Von unserem Mitarbeiter Rainer Claaßen

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