Kreis Neuwied
Auf dem Weg ins alte Leben? Wie die Pandemie den Alltag im Kreis Neuwied verändert hat – Vier Menschen und ihre Geschichte
Heinz Keuler (oben links) hat im Lockdown täglich die Anlage des FV Engers kontrolliert, obwohl niemand sie mehr nutzte. Sophia Junk (oben rechts) fehlte vor allem der Austausch mit anderen Sportlern und die Wettkämpfe. Gastronom Dirk Paganetti (unten rechts) hat während der langen Schließung seinen Gasthof renoviert und hofft jetzt, dass das Geld wieder reinkommt. Pfarrer Lothar Anhalt befürchtet, dass der Kirche schwere Zeiten bevorstehen.
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Kreis Neuwied. Corona krempelt alles um - wie hat sich das Leben an Rhein und Wied in der Pandemie verändert? Vor einem guten Jahr haben wir Menschen aus dem Kreis dazu befragt. Jetzt haben wir nochmal angerufen.

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Die Worte Lockdown, Ausgangssperre, Abstandsgebot oder Maskenpflicht sind inzwischen nicht mehr neu – sondern alltäglich. Mehr als sechs Monate haben wir im zweiten Lockdown festgesteckt und mussten uns an viele Einschränkungen gewöhnen. Das soziale Leben, der Alltag im Kreis Neuwied, steckte nach über einem Jahr Corona im Stillstand fest: Keine Veranstaltungen mehr, keine Vereinstreffen mehr, Gottesdienste ohne Gesang und auf Abstand, lange keine offenen Cafés und Restaurants oder Geschäfte, immer wieder keine Schule und Kita, im Homeoffice arbeiten, nur noch notwendigerweise das Haus verlassen, persönliche Kontakte meiden. Nichts ist mehr, wie es vor Corona war – doch ist es deswegen normal geworden?

Im ersten Lockdown hat die Rhein-Zeitung Menschen aus dem Kreis Neuwied befragt, wie sich ihr Leben von heute auf morgen verändert hat. Nun erzählen sie erneut, wie sich ihr neues Leben in der Corona-Krise entwickelt hat. Sie erzählen von großen, oft schmerzlichen Einschränkungen durch die Krise und von der Sehnsucht nach vielem, was wegfiel. Von Entschleunigung und Ruhe berichten sie nun nicht mehr – stattdessen empfinden sie auch Ärger, haben neue Sorgen und einige Probleme, sich zu motivieren.

Pfarrer Lothar Anhalt fehlen die Begegnungen vor und nach den Gottesdiensten: „Immerhin: Gottesdienste finden im zweiten Lockdown statt. Im ersten Lockdown vergangenes Jahr bleiben die Kirchen leer. Doch die jetzigen Gottesdienste liegen noch immer jenseits der Normalität“, betont Lothar Anhalt, Pfarrer der Pfarreiengemeinschaft Linz. „Mit Anmelden und Abstand lässt es sich leben, doch nicht singen zu dürfen, ist dem Gottesdienst sehr abträglich.“ Er empfindet die Zeit mit Corona wie ein Vakuum. Er fühlt sich ausgebremst. Anhalt sagt: „Ich bin dankbar, dass wir überhaupt Gottesdienste feiern können, was ja nicht unumstritten gesehen wird. Aber ich muss mir die Freude am Gottesdienst manchmal auch abringen, weil so viele Faktoren im Vorfeld zu beachten sind. Immer wieder kommen neue Dienstanweisungen, und die Abläufe sind mit einem großen Aufwand verbunden. Das kostet mich viel Kraft und Energie“, sagt der Pfarrer.

Schon im ersten Lockdown hat er mit Sorge auf die Beerdigungen geschaut und gesehen, dass eine Trauerfeier in Corona-Zeiten fast gespenstisch sei. Und das hat sich mit der Zeit nicht verändert. „Die vielen Auflagen bei den Beerdigungen sind nach wie vor einschneidend. Die Trauernden dürfen sich nicht in den Arm nehmen. So viele andere Menschen würden gern Abschied nehmen und können es nicht. Es können keine Beerdigungscafés stattfinden.“

Auch um die vielen Hochzeiten, die immer wieder verschoben werden, tut es ihm sehr leid. Fast 16 Paare haben inzwischen schon mehrmals ihre kirchliche Trauung verlegt. „Ich habe fast jede Woche mit einer weinenden Braut zu tun.“ Anhalt befürchtet, dass der Kirche schwere Zeiten bevorstehen. Schon vor Corona spürte er, dass große Veränderungen in Sachen Glauben und Kirche in unserer Gesellschaft anstanden. „Die Krise hat uns in diesen Veränderungen um fünf bis zehn Jahre in die Zukunft katapultiert. In den jetzigen Gottesdiensten sind keine Kinder, Jugendlichen oder junge Familien mehr zu sehen. Es kommen durchweg ältere Menschen.“

Heinz Keuler bedauert, dass das Vereinsleben noch immer stillsteht. Im zweiten Lockdown liegt das Leben im Fußballverein (FV) Engers 07 weiterhin brach: Kein Spielbetrieb, kein Training, keine Pokalkämpfe und kein Beisammensein unter den aktiven Vereinsmitgliedern. Seit 1956 engagiert sich der heute 73-jährige Heinz Keuler aus Engers im Fußballverein. Neun Jahre lang war er Vorsitzender des Vereins, heute ist er der „Mann für alles“. Er arbeitet im Hintergrund und hält vieles in Bewegung. Das tut er noch immer: „Zu viel Ruhe ist nichts für mich“, sagt der 73-Jährige. Doch mehr, als täglich die Anlage zu kontrollieren, bleibt ihm im Verein seit nun sehr langer Zeit nicht zu tun. Er schaut nach dem Rechten, aber begegnet dabei kaum jemandem. „Hier und da gibt es ein paar Einzeltrainings. Aber ich habe weiterhin kaum Kontakt zu den anderen Mitgliedern. Das geht leider gerade verloren“, sagt Keuler.

„Normalerweise habe ich mich abends immer mit jemandem getroffen und ein Bierchen getrunken“, erinnerte er sich im ersten Lockdown im Gespräch mit der Rhein-Zeitung. Und genau das fehlt ihm heute noch immer. Gemeinsam Probleme wälzen und sich einfach ausgelassen unterhalten – alles gerade nicht möglich. Und auch im Privaten sieht das nicht anders aus. „Die Familienfeiern fallen alle wesentlich dünner aus. Selbst meine Goldene Hochzeit konnte nicht gefeiert werden. Das tut schon ein bisschen weh“, sagt Keuler.

Er gebe aber die Hoffnung nicht auf, dass es irgendwann wieder normaler wird. „Momentan erlebt der Verein zwar einen Einbruch mit allem Drum und Dran – aber wir packen das schon. Die Spieler verzichten auf Geld, wir haben auch weniger Ausgaben in den anderen Bereichen, und die Sponsoren lassen uns nicht im Stich. Jeder wartet darauf, dass alles wieder in Schwung gerät, und so werden wir motiviert herangehen, wenn das Warten ein Ende hat“, ist sich der Rentner sicher.

Gastronom Dirk Paganetti hat die Warterei auf die Öffnungen zuletzt auch seelisch belastet: Dass es lange nicht voranging, hat ihn enttäuscht. „Das Warten nimmt mir jegliche Power. Am Anfang des zweiten Lockdowns war ich noch voller Euphorie und habe eine To-do-Liste für meinen Gasthof abgearbeitet. Aber jetzt habe ich so langsam gar keinen Antrieb mehr“, sagt er, kurz bevor die Gastronomie wieder öffnen darf.

In vierter Generation führt er das Hotel und Restaurant „Zur Erholung“ in Verscheid. Seit Beginn der Corona-Krise war dort der alltägliche Trubel im Gasthof einer gespenstischen Ruhe gewichen. Als es am Anfang des zweiten Lockdowns hieß, er könnte nur vier Wochen dauern, da sagte er sich: „Wir überstehen das schon.“ Doch dann wurden acht Wochen draus, dann zwölf, bis zu einem halben Jahr. Wie im ersten Lockdown hat der Gasthof Speisen zum Mitnehmen angeboten und kleine Gruppen von geschäftlich Reisenden beherbergt. Das bedeutete aber nur 25 Abendessen am Tag – und nicht wie vor Corona 200.

„Meine Köche haben Hunger nach Arbeit. Sie kommen noch am Wochenende und freuen sich dann, endlich mal wieder ein Gericht à la carte zubereiten zu dürfen“, beschreibt der 44-Jährige die Stimmung unter den Mitarbeitern. Doch die Stimmung der Kunden habe sich ein wenig geändert seit Beginn der Krise. „Ich merke, und ich bekomme es auch oft von Kollegen oder meiner Friseurin zu hören, dass die Menschen weniger Geduld haben, viel ungehaltener und viel genervter sind“, sagt er.

Vor allem, wenn sie vor einem Friseurtermin noch einen Test machen müssen und ihre gesamten Kontaktdaten angeben müssen, und das bereitet auch dem Gastronomen Sorgen. Paganetti hat in der Zeit des Lockdowns Geld investiert und den Gasthof renoviert. Doch mit jedem Tag ohne Einnahmen wuchs auch die Sorge, wie er das Geld zurückzahlen soll.

Sprinterin Sophia Junk musste auf Meisterschaften verzichten. Im ersten Lockdown mussten die Vereine ihre Sportstätten schließen, und so war der Trainingsplan der Sprinterin Sophia Junk hinfällig. Statt in ihrer Trainingsgruppe und den Anlagen der Leichtathletik Gemeinschaft (LG) Rhein-Wied trainierte sie im Wald. Das ist nun schon lange nicht mehr so – unter strengen Hygieneauflagen findet das Training wieder am gewohnten Ort statt. Am Anfang des zweiten Lockdowns wurden die Hygieneregeln zeitweilig aber noch mal verschärft: Dann durften sich nur zwei Sportler und ihr Trainer in den Stätten aufhalten. „Das war für Trainer und Sportler natürlich schwer umzusetzen, schließlich hat der Tag nur 24 Stunden. Doch mit viel Flexibilität und Zeitaufwand war das auch machbar“, sagt die 22-Jährige.

Sie konnte inzwischen auch wieder vereinzelt an nationalen Meisterschaften teilnehmen – doch die internationalen wie die Olympischen Spiele und die Europameisterschaften, für die sich die Sportlerin gern qualifiziert hätte, fielen aus. „Ich würde nicht sagen, dass mich die Corona-Krise zurückgeworfen hat. Aber am Anfang war die Motivation nicht mehr so da wie vorher. Ich habe mich gefragt, wofür ich überhaupt jeden Tag so früh aufstehe und mich durch das Training kämpfe, wo doch kein Wettkampf als Ziel vor Augen war. Ein Sportler lebt davon“, erinnert sie sich. Nun vermisst sie aber am meisten die menschliche Nähe – im Sport zu ihren Trainingspartnern und im Privaten zu ihren Freunden. „Sportlerehrungen und andere Veranstaltungen wurden ersatzlos gestrichen.

Und da fehlt dann natürlich der persönliche Austausch zu Gleichgesinnten – oft trifft man dort auch Sportler persönlich, deren Leistungen man ständig verfolgt“, sagt Junk. Sie merkt, dass sich die Corona-Zeit schon wie Normalität anfühlt, leider nicht mehr die Zeit davor. „Wenn ich mich mit Freunden treffe, dann vereinzelt. Und es ist schon normal, dass ich mich am Freitagabend nicht mehr zum Essengehen verabrede, sondern überlege, was ich allein in meiner Wohnung mache“, sagt die Studentin.

Von unserer Mitarbeiterin Sofia Grillo

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