Bernkastel-Kues. Vorsichtig hebt der Hundertjährige den Deckel seiner Schreibmaschine. Das Gerät funktioniert tadellos – und ist für ihn weit mehr als ein nostalgisches Relikt. Auf ihr schreibt er seine Familiengeschichte nieder. Viele Bücher sind so bereits entstanden, fein säuberlich getippt, Seite um Seite.
Ein Computer wäre schneller und bequemer, gewiss. Doch Werner Böer winkt ab. „Ich komme noch aus der Steinzeit, und fühle mich ganz wohl dabei“, sagt er lächelnd, beinahe entschuldigend. Ein einfaches Handy zum Telefonieren – mehr braucht er an moderner Technik nicht. Die digitale Welt kennt er zwar, sein Leben spielt sich jedoch vollständig analog ab. Eine E-Mail-Adresse hat er nicht. Dabei ist er sich wohl bewusst, wie rasant sich die Technik seit seiner Kindheit verändert und viele Lebensbereiche revolutioniert hat.
Stummfilme, Krieg, Urenkel: Ein 100-jähriger Bernkasteler erzählt von seinem Leben
Werner Böer wurde 1925 in einer Welt geboren, in der Strom auf dem Land noch keine Selbstverständlichkeit war. Telefone gab es bereits, doch längst nicht in jedem Haushalt. Das Radio erlebte gerade seinen Durchbruch als neues Massenmedium. Verkehrsmittel des Alltags waren Fahrrad, Eisenbahn und Straßenbahn, während der Fernverkehr noch auf Dampfschiffen und -lokomotiven basierte. Im Kino liefen noch Stummfilme, als besagte Schreibmaschine schon weit verbreitet im Büroalltag war.
Heute, hundert Jahre später, hält Werner Böer noch immer mit seiner Schreibmaschine Erinnerungen fest. Aufgewachsen ist er als Sohn eines Dorfschullehrers im schlesischen Friedrichsrode. Als 14-Jähriger erlebte er den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, wurde 1943 zur Luftwaffe eingezogen. Der Krieg führte ihn von Südfrankreich bis in die Karpaten. Verwundet geriet er in Kriegsgefangenschaft, wurde im Dezember 1945 daraus entlassen. Seine Familie wurde 1946 im Zuge der Vertreibungen nach Niedersachsen umgesiedelt.
Nach Kriegsende arbeitete er erst in Münster als Lehrer, dann in Koblenz. Das Arbeitspensum war damals 46 Stunden pro Woche. 1949 lernte er an der berufspädagogischen Akademie in Solingen seine spätere Frau Agnes kennen, die er 1952 heiratete. Aus der Ehe gingen fünf Kinder hervor; heute gehören zehn Enkel und zwei Urenkel zur Familie.
1960 übernahm Werner Böer die Leitung der Berufs- und Berufsfachschule in Prüm, die er mit großem Engagement reformierte und modernisierte. 1971 folgte der Wechsel nach Bernkastel-Kues – als erster Schulleiter in den neuen Räumlichkeiten in der Bornwiese, in denen die Schule bis heute besteht. Auch hier entwickelte er eine neue moderne Schulorganisation. 1986 trat er schließlich in den wohlverdienten Ruhestand.
Gibt es das große Geheimnis vom Altwerden überhaupt?
Als Kind träumte er davon, Astronom zu werden, später dann Meteorologe. „Ich habe lange bedauert, dass ich das nicht werden konnte“, sagt er rückblickend. Wegen besserer Berufsaussichten entschied er sich damals für den Lehrerberuf. „Ich bin gerne Schulleiter gewesen, das hat mich sehr erfüllt.“ Verständnis und Vertrauen sowie ein offenes Miteinander im Kollegium – das waren für Werner Böer stets die tragenden Säulen seines pädagogischen Handelns. „Manchmal fühlte ich mich mehr als Psychotherapeut denn als Chef.“
Vertrauen als Leitmotiv zieht sich wie ein roter Faden durch sein Leben. Ein Leben, das ebenfalls tief geprägt ist durch die 67-jährige Ehe mit seiner Frau Agnes. Ihr Satz „Du schaffst das doch!“ trug den bekennenden Christen durch alle Lebenslagen.
Heute lebt Böer noch immer im eigenen Haus in Bernkastel-Kues. Eine Tochter wohnt mit im Gebäude, eine Haushaltshilfe kümmert sich um das Kochen. Sein Tagesablauf: Nachrichten hören, Gedanken ordnen, ein einfaches Frühstück. Seit Jahren: Müsli mit Haferflocken, Rosinen, Honig und Milch. Fernsehen? Kaum. Dafür regelmäßige Fahrten hinauf zum Plateau – mit dem Auto, noch immer selbst gesteuert.
Der soziale Kreis ist kleiner geworden, viele alte Freunde sind verstorben. „Mit zunehmendem Alter wird es schwerer, sich auf neue Menschen einzulassen.“ Einsamkeit und das Fehlen eines vertrauten Miteinanders spürt er zunehmend – wie viele ältere Menschen. Er ist der Erste in seiner Familie, der die 100 erreicht hat.
Worin sein Schlüssel zu einem langen Leben liegt? Er weiß es selbst nicht. „Ein Rezept gibt es nicht. Vielleicht hat es geholfen, dass ich mein Gehirn immer gefordert habe. Und wer in der Jugend nicht stirbt, hat eben die Chance, alt zu werden.“ Für das Leben, das ihm geschenkt wurde, und für die Menschen, die ihn begleitet haben, empfindet er tiefe Dankbarkeit. Und am Ende des Gesprächs sagt er mit einem Schmunzeln: „Mit Jammern habe ich nichts am Hut.“ Vielleicht ist genau das sein wahres Geheimnis.