Gespräch in Blankenrath
Warum Populisten plötzlich wählbar sind
Die Bundestagswahl wird ein Wegweiser sein, in welche Richtung sich Deutschland bewegt.
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„Wenn der Staat seine Daseinsvorsorge vernachlässigt, wird sich die Ablehnung gegen ihn und Demokratie erhöhen“, warnt der Soziologe Luis Caballero. Wir haben mit ihm und Lisa Pfeil von der Blankenrather Initiative „Haltung zeigen“ gesprochen.

Wie kann man angesichts des erstarkten Rechtspopulismus für Demokratie begeistern? Darüber hat unsere Zeitung mit dem Soziologen Luis Caballero und Lisa Pfeil von „Haltung zeigen“ gesprochen. Caballero war kürzlich auf Einladung der Blankenrather Initiative im Hunsrück zu Gast.

Frau Pfeil, warum haben Sie schlaflose Nächte, wenn Sie an Deutschland denken?

Lisa Pfeil: Ich war mir immer so sicher, dass wir hier in Deutschland und in Europa selbstverständlich in einer stabilen und starken Demokratie leben, die tatsächlich nie wieder infrage gestellt werden wird. Heute weiß ich, wie naiv das war. Wir erleben gerade, dass rechtspopulistische und rechtsradikale Kräfte, die nicht nur unsere demokratische Grundordnung, sondern auch die Gleichwertigkeit der Menschen, die anders denken, aussehen oder leben, infrage stellen, ganz gezielt den gesellschaftlichen Zusammenhalt torpedieren und immer mehr Raum in unserer Gesellschaft gewinnen. Das treibt mich um und macht mir – wie vielen anderen Menschen auch – zunehmend Sorge.

Wie kommt die Initiative „Haltung zeigen“ im Blankenrather Kirchspiel an?

Lisa Pfeil: Zu unserem ersten Treffen kamen aus dem Stegreif fast 40 Menschen aus dem gesamten Kirchspiel. Das zeigt, dass viele verstanden haben, worum es geht, und dass sie bereit sind, sich aktiv für Demokratie und Vielfalt einzusetzen. Das ist sehr motivierend. Aber es gibt auch kritische Stimmen, die sagen unsere Initiative „spalte das Dorf“. Etlichen Menschen und auch den hiesigen Vereinen, demokratischen Parteien und Unternehmen scheint es mitunter schwerzufallen, sich offen und klar zu positionieren. Da würden wir uns über einen Schulterschluss freuen.

Was können Initiativen wie „Haltung zeigen“ bewirken?

Luis Caballero: Wissenschaftliche Studien zeigen immer wieder aufs Neue, dass dort, wo Zivilgesellschaft abwesend ist, extrem rechte Aktivitäten leichter stattfinden können. Zivilgesellschaftliche Initiativen wie „Haltung zeigen“ leisten einen wertvollen Beitrag für Demokratie und Vielfalt, da sie der demokratischen Gesellschaft eine Stimme verleihen und vernehmbar für ein friedliches Zusammenleben eintreten. Sie verhindern, dass nur die menschenfeindlichen Inhalte öffentlich wahrgenommen werden und können selbst positive Beiträge für die Gestaltung gesellschaftlicher Entwicklung leisten. Sie dienen der Vernetzung aller Demokratinnen und Demokraten über Parteigrenzen hinweg und können Menschen für ein demokratisches Engagement aktivieren.

Die Initiative „Haltung zeigen“ setzt auf Dialog. Können Sie auch rechte Akteure erreichen?

Lisa Pfeil: Mit Aktivitäten wie dem „Mobilen Kaffeeklatsch“, dem Repair Café, das wir gerade auf die Beine stellen, oder unserem regelmäßigen offenen Stammtisch gestalten wir Möglichkeiten zum Austausch, Miteinander und Dialog. Genau das macht Demokratie lebendig. Wenn wir damit auch potenzielle AfD-Wähler erreichen und mit ihnen ins konstruktive Gespräch kommen, ist das wunderbar. Die hiesige AfD reagiert auf unsere Aktivitäten, indem sie in Leserbriefen und Social-Media-Posts ganz subtil versucht, unsere Initiative in ein negatives Licht zu rücken. Dabei hat kürzlich ein AfD-Vertreter den Begriff „Haltungsdemokraten“ für uns geprägt. Sehr treffend, wie wir finden. Denn er grenzt uns klar von rechtspopulistischen und extremistischen „Scheindemokraten“ ab.

Das Foto vom September 2018 in Chemnitz zeigt Teilnehmer der Demonstration von AfD und dem ausländerfeindlichen Bündnis Pegida.
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Welche Rolle spielt die inzwischen bedeutungslos gewordene Bewegung Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes) beim Erstarken der Rechtspopulisten?

Luis Caballero: Wir verzeichnen seit etwa 2014 eine beschleunigte Zunahme demokratie- und menschenfeindlicher Einstellungen und Handlungen, was sich empirisch gut abbilden lässt. Pegida als Bewegung spielte hierbei auch bundesweit eine entscheidende Rolle. Sie mobilisierte viele Menschen für Straßenproteste und war eine Plattform für die öffentliche Verbreitung extrem rechter und rechtspopulistischer Inhalte mit einer großen medialen Reichweite. Sie ermöglichte eine Kooperation unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure und trug durch die andauernden Mobilisierungen erheblich zur Radikalisierung entsprechender Bevölkerungsteile bei.

Welchen Zusammenhang sehen Sie mit dem Tankstellenmord am 18. September 2021 in Idar-Oberstein, als ein junger Angestellter mit einem Kopfschuss getötet wurde, weil er den Täter auf die Maskenpflicht wegen Corona aufmerksam gemacht hatte?

Luis Caballero: Der Mord in Idar-Oberstein steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den autoritären Bewegungen der Pandemieleugnungs- beziehungsweise Relativierungsszene. Diese Aktivitäten weisen zwar über die extreme Rechte hinaus, da durchaus auch andere Bevölkerungsteile daran teilnahmen, wurden aber entscheidend durch die Diskurse und Inhalte der extremen Rechten geprägt. So wie sich die Szene insgesamt in eine extrem rechte und demokratiefeindliche Richtung radikalisierte, so verstrickte sich der Täter immer mehr in Verschwörungsideologien und sah sich verpflichtet, selbst zur Tat zu schreiten. Er sah sich selbst als eine Art Widerstandskämpfer gegen die Regierung und den Staat. Die Ablehnung der Infektionsschutzmaßnahmen war zugleich die fundamentale Ablehnung des demokratischen Verfassungsstaates. Der Mörder handelte zwar einzeln, seine ideologische Orientierung stand aber in einem extrem rechten Kontext, weswegen wir die Tat als rechten Terror einstufen.

Warum ist Ihrer Meinung nach die AfD so stark geworden? Und welche Versäumnisse demokratischer Institutionen sehen Sie?

Lisa Pfeil: Das ist eine sehr komplexe Frage. Wir leben in krisengeschüttelten Zeiten, und der AfD gelingt es offenbar, vorhandene Ängste sehr gut zu „bedienen“ und ganz gezielt Wut und Hass gegen „die Migranten“ und „die da oben“ zu schüren, die sie als Ursache aller Probleme markieren. Wenn sich nun Politik, Medien und weite Teile der Gesellschaft auf diese Dynamik einlassen, geraten andere Themen wie soziale Gerechtigkeit, Bildung, Gesundheitsversorgung und Klima ins Abseits. Mein Eindruck ist, dass die AfD da sehr strategisch und leider auch erfolgreich vorgeht, um diese „Spirale“ in Gang zu halten.

Herr Caballero, Sie sehen als Versäumnis unter anderem eine mangelhaft finanzierte Infrastruktur, vor allem im ländlichen Raum. Können Sie das erklären?

Luis Caballero: Mangelnde Infrastruktur beeinträchtigt unmittelbar die Lebensgestaltung von Menschen. Wenn der Staat seine Daseinsvorsorge vernachlässigt, wird sich die Ablehnung gegen ihn und die Demokratie erhöhen. Wenn in einer Demokratie Schulen marode sind, Mobilität nur eingeschränkt wahrgenommen werden kann, Digitalität nur schleppend ausgebaut wird, Kindergärten vernachlässigt werden etc., stellt sich für Menschen die Frage, warum sie sich für Demokratie begeistern und engagieren sollen.

Die Blankenrather Initiative wirbt mit bunten Händen für Vielfalt und Demokratie.
Laura Simon

Welche Folgen kann das haben?

Luis Caballero: Viele Menschen sehen sich den vielfältigen Krisen hilflos ausgeliefert und entwickeln eine Wahrnehmung mangelnder Selbstwirksamkeit und Ohnmacht. Diese Unsicherheit soll dann durch eine Hinwendung zu autoritären Akteur:innen kompensiert werden. Diese versprechen ja, scheinbar im eigenen Interesse und unter Einschränkung demokratischer Prinzipien rücksichtslos vorzugehen.

Merkmale der rechtspopulistischen Kommunikationsstrategie sind Tabubrüche, Lügen und Pseudowissenschaftlichkeit. Wie kann man das entlarven, wenn man beispielsweise im Freundeskreis damit konfrontiert wird?

Luis Caballero: Berechtigte Sorgen wie Wohnungsmangel oder Zukunftsangst sollte man ernst nehmen, aber tatsächliche Ursachen benennen und Falschbehauptungen zurückweisen. Bei der Aussage „Ausländer nehmen uns die Wohnungen weg“ kann auf den versäumten öffentlich geförderten Ausbau von Wohnraum hinweisen, also auf Versäumnisse der Politik, für die Menschen mit Migrationshintergrund als Sündenböcke verantwortlich gemacht werden. Man kann nach den Quellen fragen, auf die sich berufen wird und diese einordnen. Überhaupt ist es sinnvoll, direkt nachzufragen: „Wie meinst du das?“ und „Woher hast du das?“. Man kann darüber hinaus auf Konsequenzen der Äußerungen hinweisen, beispielsweise dass Rassismus keine Antwort auf die Probleme darstellt, sondern im Gegenteil diese verschärft.

Man solle "möglichst viele Menschen für Demokratie begeistern und aktivieren", empfiehlt der Soziologe Luis Caballero.
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Wie lautet Ihr Appell an die Zivilgesellschaft?

Luis Caballero: Sich für Demokratie und Vielfalt einzusetzen. Eigene Impulse und Inhalte zu formulieren. Beispiele für gelungenes Zusammenleben zu präsentieren und dieses zu unterstützen. Möglichst viele Menschen für Demokratie zu begeistern und zu aktivieren. Sich zusammenzuschließen. Kontinuierlich zu handeln und beharrlich zu sein. Immer wieder in und für die Öffentlichkeit wahrnehmbar zu sein. Eine laute und vernehmbare Stimme zu sein. Die Politik in die Pflicht zu nehmen.

Lisa Pfeil: Ich glaube, wir müssen realisieren, dass wir über die Phase „Wehret den Anfängen“ längst hinaus sind. Wir stecken mittendrin. Wir alle müssen jetzt ganz bewusst entscheiden, wie wir mit dieser bedrohlichen Situation umgehen wollen. Abwarten und hoffen, dass es schon nicht so schlimm werden wird? Oder genau hinschauen, Verantwortung übernehmen und etwas tun? Diese Entscheidung müssen wir gerade alle ernsthaft treffen und vor uns selbst verantworten.

Die Interviewpartner

Lisa Pfeil aus Blankenrath ist Diplom-Sozialarbeiterin und arbeitet als freiberufliche Beraterin mit den Schwerpunkten Organisationsentwicklung, Coaching und Supervision. Mit Antje Lorenz-Schönborn hat sie im Frühjahr 2024 die Initiative „Haltung zeigen“ gegründet, erreichbar per E-Mail an Demokratie-Vielfalt-blankenrath@outlook.de

Luis Caballero ist Soziologe, Zivilcouragetrainer und forscht unter anderem zur Entwicklung der extremen rechten und rechtspopulistischen Szene. Weil er aufgrund seiner wissenschaftlichen Arbeit einer permanenten Bedrohungslage ausgesetzt ist, steht er unter besonderem Schutz.

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