Einen Bartgeier außerhalb seiner Heimatregion in der freien Wildbahn zu sichten, hat eher Seltenheitswert. Dass ein solcher Vogel jüngst in Cochem aufgetaucht und den Kater einer Familie attackiert haben soll, hat bei den Haustierbesitzern an der Mosel deshalb berechtigte Zweifel ausgelöst. Dennoch wäre es theoretisch möglich gewesen. Denn Bartgeier Vinzenz, der inzwischen wohl berühmteste Greifvogel Deutschlands, hatte sich tatsächlich auf eine ungewöhnliche Reise begeben.
Im Hochgebirge beheimatet
Normalerweise sind Bartgeier im Hochgebirge beheimatet. Nur selten verirren sie sich laut Angabe des bayerischen Naturschutzverbands LBV (Landesbund für Vogel- und Naturschutz) in flachere Regionen. Da die Greifvögel Anfang des 20. Jahrhunderts in den Alpen ausgerottet waren, werden seit 1986 im Rahmen eines Zuchtprojekts junge Bartgeier im Alpenraum ausgewildert.
Vinzenz wurde in einem vom LBV und dem Nationalpark Berchtesgaden gemeinsamen Projekt im bayerischen Teil der deutschen Alpen vor rund einem Jahr ausgewildert. Laut Angabe des LBV war der Kultvogel bereits als Küken mit einem Schlüpfgewicht von 178 Gramm deutlich schwerer als seine Artgenossen. Bei seiner Auswilderung war Vinzenz 88 Tage alt, den ersten Flugversuch unternahm er im Alter von 114 Tagen.

In der vergangenen Woche hat der Geier sich dann auf große Reise begeben. Auf Nachfrage teilt der bayerische Naturschutzbund unserer Zeitung mit, dass anhand von GPS-Daten die genaue Flugroute von Vinzenz verfolgt werden konnte. „Nachdem Vinzenz am Freitag von der Bergregion um Garmisch bis in die Oberpfalz geflogen war, drehte er zunächst wieder nach Süden um, um dann aber bei München nach Westen abzubiegen und in der Folge weite Teile Westdeutschlands zu überfliegen. So führt die Route seiner Deutschlandreise über Heilbronn, Mannheim, Mainz und Dortmund, bis er schließlich nördlich von Nordhorn die Niederlande erreichte.“
Flugroute mit GPS verfolgt
Die Moselregion bei Cochem überflog Vinzenz allerdings nicht. Bleibt also die Frage, wer nun den Kater in Cochem angegriffen hat. Vinzenz kann es laut GPS-Daten nicht gewesen sein. Markus Erlwein, Pressesprecher des LBV, teilt mit: „Ein lebendes Tier anzugreifen, wäre für einen Bartgeier auch ungewöhnlich. Bartgeier sind Knochenfresser, die lebende Tiere weder jagen noch fressen.“
Am vorigen Montag wurde der reiselustige Vogel, der nach 1600 Kilometer Flug erschöpft und um zehn Prozent seines Körpergewichts leichter in Oldenburg unerwartet direkt an einer Landstraße landete, von Vogelschützern eingesammelt, die Vinzenz anhand von GPS-Daten verfolgen konnten. Der Bartgeier wird nun tierärztlich untersucht und aufgepäppelt. „Sobald Vinzenz sein Normalgewicht wieder erreicht und alle medizinischen Werte stabil sind, ist eine Rückführung in die Alpen vorgesehen. Über Ort und Zeitpunkt wird in enger Abstimmung mit den zuständigen Fachstellen entschieden“, heißt es seitens des LBV.
Ob Vinzenz seinem Status als Kultvogel alle Ehre macht und sich noch einmal auf große Reise begibt, bleibt abzuwarten.