Der Fall Roman Derr bewegt. Der 35-Jährige erleidet vor vier Jahren einen schweren Autounfall. Er kann nicht sprechen, nicht essen, nicht laufen. Er wird im Pflegeheim Hausen (Wied) betreut. Seine Mutter kämpft lange gegen die Mühlen der Bürokratie, um ihren Sohn zu Hause pflegen zu können. Seit zwei Jahren lebt Roman in einer kleinen Wohnung in Kaisersesch. Doch wo frühere Hürden überwunden scheinen, stellen sich neue in den Weg. Die Geschichte einer Familie, die viel verloren hat – und doch nicht aufgegeben wird.
Roman sitzt zurückgelehnt in seinem Rollstuhl. Pflegekraft Katja Ivanenko trainiert mit dem 35-Jährigen. Sie hält einen grünen Stoffwürfel in der Hand, zeigt auf die Ziffer 3, die Roman benennen soll. Im Hintergrund läuft die Serie „Two and a Half Men“ auf einem an der Wand montierten Fernseher, und ein aufklappbares Pflegebett nimmt den Raum ein. Einen Balkonzugang hat Roman Derr im Schlafzimmer seiner Wohnung auch noch, auf den ersten Blick scheint es ihm in seinem neuen Zuhause an nichts zu fehlen.

Nie aufgeben: Mutter aus Kaisersesch kämpft für ihren Sohn
Mitten in der Nacht klingelt die Cochemer Polizei am 7. Juni 2020 bei Antonia Derr, um ihr die schreckliche Nachricht zu überbringen: „Ihr Sohn Roman hatte einen schweren Autounfall.“ Damals ahnt die Mutter noch nicht, wie schwer er verletzt ist und was das für sein Leben, aber auch für ihr Leben ...
Dass der zweifache Vater aber überhaupt von einem Zuhause sprechen kann, ist ein kleines Wunder. Roman Derr erleidet 2020 einen schweren Autounfall. Nach Angaben der Polizei touchiert der junge Mann eine Verkehrsinsel auf der B42 in Vallendar. Ob Roman Derr überlebt, ist unklar, wochenlang liegt er im Koma – die Wirbelsäule ist an vier Stellen gebrochen, Herzbeutel und Lunge sind gerissen.
Roman Derr kann weder sprechen, essen, noch laufen. Eine Spastik bildet sich nach einem halben Jahr. Er liegt im Pflegeheim Hausen (Wied) und die Ärzte sollen der Mutter wenig Hoffnung bescheinigt haben: „Er lag nach einem halben Jahr krumm wie eine Banane im Bett“, erinnert sich Antonia Derr. Aus ihrer Sicht habe niemand intensiv genug nach ihrem Sohn sehen können – ein Eindruck, der wohl auch im tiefen Kümmerinstinkt der Mutter verwurzelt ist.

Doch Antonia Derr ist ebenso eine Kämpferin wie ihr Sohn. 600 Kilometer fährt sie in der Woche, um ihrem Sohn zu pflegen. Schon nach kurzer Zeit im Heim fasst sie den Entschluss, ihrem Sohn zu Hause besser helfen zu können. Die Metzgereifachverkäuferin organisiert eine Wohnung, ein Pflegeteam, Ärzte in ihrer Nähe und möchte ihren Sohn in die Heimat nach Kaisersesch holen.
Die Bürokratie macht der Familie lange einen Strich durch die Rechnung. Die Frage, welche Kreisverwaltung zuständig ist, verzögert den Prozess um ein Jahr. Das kostet Antonia Derr nicht nur Kraft, sondern auch viel Geld, um die angemietete Wohnung halten zu können: „Finanziell war ich im Minus, und psychisch war ich fertig“, beschreibt sie immer noch mitgenommen. Erst nach medialer Berichterstattung der RZ und des SWR kommt Bewegung in die Sache.

Im Armdrücken unschlagbar
Am 14. April 2023 darf Roman Derr endlich in sein neues Zuhause. Seitdem hat sich viel getan. Zurück aus dem Heim wird Roman von seiner Mutter und den Pflegekräften aufgepäppelt. Der gelernte Dachdecker übt, mit Handzeichen zu kommunizieren und trainiert mit seinem Pflegeteam. Der Fortschritt ist aber nicht nur daran zu erkennen, wie hoch der 35-Jährige seine Beine strecken kann. Beim Besuch der RZ lässt er dem Volontär im Armdrücken keine Chance.
Zwischen Dankbarkeit und „Der Kampf geht weiter“ - in diesem Spannungsfeld bewegt sich Familie Derr aktuell. Die Mutter ist dankbar für ihr gutes Pflegeteam, die engagierte Logopädin Anja Ernst und das Medizinische Zentrum für Erwachsene mit Behinderung (MZEB) Neuwied, die Roman Derr Botox gegen seine Spastik-Schmerzen spritzen. Unterstützung erfährt sie zudem vom Verein Durchblick und dem Vorsitzenden Adrian Mohr. Der Verein spendet unter anderem den Fernseher und steht der Familie in vielen Fragen zur Seite.
Ein Sitz- und Aufstehbett wird von der Krankenkasse nicht finanziert. Die Kosten von 14.200 Euro übernimmt die Andreas-Hahn-Stiftung. Selbige finanziert erst kürzlich eine Rampe, die es Roman ermöglicht, auf den Balkon zu fahren.
Roman Derr leidet massiv unter Schmerzen der Spastik
Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Dennoch leidet Roman Derr massiv unter den Schmerzen der Spastik. Die Mutter fragt ihren Sohn in der Küche, wie er heute geschlafen habe. Roman senkt den Daumen ein wenig, nachts kann er ohne starke Schmerzmittel nicht mehr schlafen: „Er muss ständig stöhnen“, erklärt die Mutter verzweifelt.
Was dagegen helfen würde? Nicht nur Massage oder Physiotherapie, sondern auch ein „Exopulse Anzug“. Was klingt wie ein Astronautenspielzeug, ist vereinfacht gesagt ein Anzug, der elektrische Impulse an die betroffenen Muskeln sendet und so entspannt. Diesen hat Roman zur Probe einmal testen dürfen: „Roman war danach ganz locker, sein linker Arm war gerade, für mich war das wie ein Wunder“, erklärt die Mutter.
„Wie kann man sagen, die Suppe schmeckt nicht, wenn man sie nicht probiert.“
Antonia Derr ist wütend, weil ihr Antrag abgelehnt wurde, ohne dass der Medizinische Dienst ihren Sohn persönlich begutachtet.
Erst vor wenigen Tagen hat ein Gutachten des medizinischen Dienstes im Auftrag der IKK Südwest entschieden, ob der 35-Jährige regelmäßig von den Wirkungen des Anzugs profitieren darf. Ihr Antrag auf Kostenübernahme wird abgelehnt. Was die Mutter entsetzt, die Gutachter entscheiden aufgrund der Diagnose und sehen sich Roman Derr nicht am Ort an: „Wie kann man sagen, die Suppe schmeckt nicht, wenn man sie nicht probiert“, regt sich die Metzgereifachverkäuferin auf.
Wie argumentiert die Krankenkasse?
Unsere Zeitung hat die Krankenkasse dazu befragt. Die Grundlage der Kostenübernahme für Hilfsmittel richte sich grundsätzlich nach gesetzlichen Vorgaben. Bedingung sei, dass das Hilfsmittel zur Behandlung der Krankheit oder dem Ausgleich der Behinderung notwendig ist. Zudem müsse das Produkt im Hilfsmittelverzeichnis des GKV-Spitzenverbandes gelistet sein. Und hier kommt die Krux: Der Exopulse-Anzug ist nicht Teil dieser Liste.
Die IKK Südwest erklärt, dass alle Entscheidungen bei gesetzlichen Krankenkassen zur Kostenübernahme immer individuell geprüft werden. Daher sei der Medizinische Dienst beauftragt worden, zu beurteilen, ob eine Kostenübernahme des Anzugs dennoch begründet werden könne.

Im Fall von Roman Derr kam der Medizinische Dienst in seiner Beurteilung nicht zu dem Schluss, dass die Voraussetzungen für eine Kostenübernahme erfüllt seien. Das liege neben den gesetzlichen Vorgaben des Sozialgesetzbuches daran, dass die medizinische Evidenz über die Wirkungsweise des Anzugs nicht ausreichend sei. Auch eine notstandsähnliche Situation liege im Fall Roman Derr nicht vor.
Die Krankenkasse äußert sich zudem zu dem Vorwurf, dass der Medizinische Dienst (MD) nicht am Ort war. Grundsätzlich dürften gesetzliche Krankenkassen die Art und Weise der Begutachtung nicht vorschreiben – der MD sei frei und unabhängig in seiner Beurteilung. Die IKK Südwest ergänzte aber, dass die Kostenübernahme im vorliegenden Fall nicht an der Art und Weise der Begutachtung gescheitert sei, sondern an der fehlenden entsprechenden Rechtsgrundlage. Die Kosten des Exopulse-Anzugs werden im Internet mit bis zu 8500 Euro beziffert. Daher meint die IKK Südwest, es löse enorme Haftungsrisiken aus, wenn eine gesetzliche Krankenkasse solche Kosten übernehme.
Eine Mutter, die alles für ihren Sohn tut
Die Mutter ist negativ gestimmt, weil sie in der Vergangenheit viele Kröten geschluckt hat. Roman Derr ist schwerst pflegebedürftig – er hat Pflegegrad 5, die höchste Stufe. Dennoch seien Anträge für ein Sitz- und Aufstehbett oder eine Rampe, mit der Roman in seinem Rollstuhl auf den Balkon fahren kann, in der Vergangenheit abgelehnt worden: „Alles, was Roman hilft, muss ich selber organisieren. Da werden mir Steine in den Weg gelegt“.
„Ich gehe manchmal heulend ins Bett, wenn ich einen Brief mit einer Absage kassiere. Ich habe keine Kraft mehr. Morgens stehe ich dann auf und denke, es muss weiter gehen.“
Antonia Derr über ihren persönlichen Zustand
So oder so, Antonia Derr kämpft weiter für ihren Sohn. Sie geht für ihn an ihre finanziellen und psychischen Grenzen. Sie kümmert sich alleine, der Vater ist seit 2021 nicht mehr Teil des Familienalltags. Was von der Krankenkasse nicht finanziert wird, organisiert sie. Nach eigenen Angaben investiert die Mutter monatlich rund 500 Euro in die Pflege ihres Sohnes, wobei allein etwa 250 Euro auf Kosten für Massagen entfallen.
Hinzu kommen weitere Ausgaben für Produkte wie medizinische Mundspülung, Salben oder ein Spray zur Behandlung der Spastik. Woher die Mutter ihre Kraft hernimmt, kann sie nicht sagen: „Manchmal gehe ich heulend ins Bett, wenn ich einen Brief mit einer Absage kassiere. Ich habe keine Kraft mehr. Morgens stehe ich dann auf und denke: Es muss weiter gehen.“
Wer Kontakt zu Antonia Derr aufnehmen oder die Familie unterstützen will, kann sich melden per E-Mail an antonia.derr@ gmx.de