Es ist der Freitagabend vor Fastnacht. Draußen ist es bereits dunkel und im Wohnhaus Beim Weißen Stein 3 haben es sich der Faider Ortschef Stefan Thomas und seine Frau Tanja gemütlich gemacht. Vielleicht, um sich die Fernsehsitzung aus Mainz anzuschauen? Die beiden sind auf jeden Fall Karnevalsjecken, denn die Leuchte überm Esstisch ist mit bunten Luftballons und Luftschlangen dekoriert. Aus der Musikbox ertönen Fastnachtslieder. Doch plötzlich klingelt es und die Idylle wird jäh unterbrochen. Vor der Haustür stehen sechs Maskierte, die sich an dem Ehepaar vorbei in den Wohnraum drängen. Was klingt, als handele es sich hier um einen perfiden Überfall, ist in Wirklichkeit ein altes Brauchtum in Faid.

In Wirklichkeit haben Stefan und Tanja Thomas auch damit gerechnet, „überfallen“ zu werden, sie haben es sogar gehofft. „Wir haben uns als Gastgeber für die Bogatte gemeldet“, erklärt Thomas. Bogatte, was auf Platt so viel bedeutet wie verkleidete Personen, sind in den Fastnachtstagen nämlich in Faid unterwegs, um Menschen aus dem Ort zu besuchen. „Ein altes Brauchtum, das bis im vorigen Jahr eingeschlafen war, nun aber wieder auflebt“, erklärt Thomas.
Früher war der Zeitraum, in dem die Bogatte auftauchen, allerdings ungewiss. Irgendwann vor Fastnacht konnten die Maskierten plötzlich vor der Tür stehen. Das hat sich heute geändert, denn nicht jeder der rund 1000 Einwohner ist mit der Tradition vertraut. Deshalb gibt es inzwischen einen festen Tag, den Freitag vor Fastnacht, an dem die Bogatte losziehen. Wer dazu bereit ist, die Leute zu empfangen und zu verköstigen, hat sich vorher angemeldet. „Früher sind meine Frau und ich auch gern Bogatte gegangen, aber es muss ja auch welche geben, die die Jecken einlassen und bewirten“, schmunzelt Thomas.

Zurück ins Esszimmer. Inzwischen haben die sechs bis zur völligen Unkenntlichkeit Vermummten am Esstisch Platz genommen. Gesprochen wurde bisher noch kein Wort. Es gilt nun nämlich zu erraten, wer sich hinter den Masken versteckt und die eigene Stimme könnte verräterisch sein. Doch Tanja und Stefan Thomas lassen sich nicht unterkriegen. „Ou, ihr seid awwa schiene Bogatte, wart ihr schun mol hej,“ fragt Thomas forsch. Unhöflich wollen die Bogatte dann auch nicht sein und antworten mit piepsig hellen oder tiefdunkel verstellten Stimmen möglichst einsilbig mit Ja oder Nein.
Die Hausherrin bietet den Maskierten derweil Getränke an. Ob es ein Bier oder lieber ein Likörchen sein darf, kann möglicherweise ein Indiz sein. „Die Männer trinken ja eher Bier, die Frauen dafür oft lieber Likör. Aber hundertprozentig darauf verlassen sollte man sich nicht, weil die Bogatte die Gastgeber natürlich gern hinters Licht führen“, meint Thomas. Der Ortschef bohrt weiter. Wohnst du im Dorf, wo arbeitest du, hast du viele Geschwister, bist du in einem Verein? Solche und ähnliche Fragen müssen sich die Bogatte anhören. Die Antworten mit verstellten Stimmen sind nur schwer zu verstehen und ausmachen, um wen es sich handelt, ist noch schwieriger.

Tanja Thomas bringt Knabbersachen, Käsewürfel und Fleischwurst auf den Tisch. Da würden die Bogatte schon gern zugreifen, wenn nur die Masken nicht wären. Denn die machen es ihnen ziemlich schwer, den Mund zu öffnen. „Stohhalm“, quietscht plötzlich die Anonymusmaske. Tanja Thomas schmunzelt. Die Gastgeberin ist gut vorbereitet, eilt in die Küche und kommt mit der gewünschten Trinkhilfe zurück.
Mit Strohhalm gelingt es den meisten zumindest, das Getränk zu sich zu nehmen. Der Bogatt mit der Alte-Mann-mit-Zigarre-Maske, die auf den ersten Blick wirklich gruselig aussieht, bemüht sich vergebens. Die Öffnungen für Augen und Mund sind so klein, dass er das Glas nicht findet. Die Oma-Maske neben ihm hilft ihm dabei, den Strohhalm auf der eine Seite ins Glas, auf der anderen Seite in den Mund zu stecken. Auch das ist eine Herausforderung, denn die Bogatte haben sich so gut verkleidet, dass kein Stück Haut sichtbar ist. Sie tragen dicke Jacken, Mäntel, Bademäntel, Kopfbedeckungen, Schals und Handschuhe. Der Wohnraum von Familie Thomas ist gut geheizt und langsam fangen die Bogatte an zu schwitzen und unruhig auf den Stühlen hin und her zu rutschen. Bevor die Gastgeber ihre Identität erraten, dürfen die Masken aber nicht gelüftet werden.

Nach rund 15 Minuten gesteht Tanja Thomas, dass sie einen Bogatt an der Kleidung zu erkennen glaubt. Es ist nämlich ihre eigene Kleidung, die sich Tochter Chantal aus dem Schrank der Mutter gemopst hat. Entdeckt! Erleichtert zieht Chantal die Maske aus und entledigt sich auch gleich Schal und Handschuhen. Es dauert nicht lange, bis die Eltern darauf kommen, dass Chantals Freund ebenfalls mit von der Partie ist. Auch der junge Mann lüftet erleichtert die Maske.
Stefan Thomas scheint seine Pappenheimer gut zu kennen, denn kurz darauf müssen auch die anderen ihre Identität preisgeben. Bei dem „Alte-Mann-mit-Zigarre-Maske“ dauert es am längsten. „Als er sich zur Seite gedreht hat, habe ich ihn an der Halspartie erkannt“, gesteht Thomas, und Markus Adams schiebt seine Maske beiseite. „Ganz schön heiß ist es unter dem Ding, das hätte ich nicht gedacht“, gibt er zu.

Enttarnt lassen sich die Bogatte nun Getränke und Knabbereien schmecken und plaudern mit den Gastgebern. „Es ist toll, Bogatte zu gehe. Es macht beiden Seiten Spaß, den Gastgebern genauso viel wie uns“, ist sich Chantal sicher, die auch im vorigen Jahr schon dabei war. Ihre Freundin Sophie ist zum ersten Mal beim Bogatte dabei. Sie fügt an: „Es ist auch spannend, in andere Häuser zu gehen. Man sitzt schließlich nicht jeden Tag auf der Couch bei irgendeinem Dorfbewohner.“ Untereinander wissen die Bogatte nicht, wer alles unterwegs ist. Man formiert sich meist in Kleingruppen, die sich untereinander zuerst erraten müssen. Auf der Straße werden die Bogatte von Passanten entsetzt angeschaut und müssen erst erklären, in welcher Mission sie unterwegs sind.
Am Esstisch bei Familie Thomas ist es mit dem entspannten Geplauder vorbei, als es erneut klingelt und sich weitere Bogatte ankündigen. Tanja Thomas eilt zur Tür und hält den neuen Besuch so lange auf, bis sich die sechs am Esstisch wieder maskiert haben. Im Flur ist schallendes Gelächter zu hören. Ein Bogatte ist allein daran zu erkennen, denn kaum sitzt er, fragt Thomas: „Bist du unsere Eierfrau?“ Enttarnt. Kein Problem. Bei dem gespenstisch aussehenden Hasen dauert es sehr viel länger. Er spricht nur wenig und kein Stück Haut ist zu sehen. Da ist selbst Tanja Thomas am Ende überrascht, dass sich der Hase als ihre Schwester entpuppt. So gut verkleidet war sie.

Nach rund einer halben Stunde verabschieden sich die Bogatte und ziehen weiter. Schließlich haben sich insgesamt acht Familien als Gastgeber gemeldet, die wollen alle aufgesucht werden. „Eigentlich ist ja um 23 Uhr Schluss, aber voriges Jahr ging es bis zwei Uhr morgens“, gesteht die Eierfrau. Die Gruppen bleiben so zusammen, wie sie gekommen sind. Hase und Eierfrau lassen den sechs anderen ein bisschen Vorsprung, bevor sie dann auch aufbrechen und solange durchs Dorf ziehen, bis alle Gastgeber besucht sind. Der alte Brauch vom Bogatte, da ist man sich in Faid sicher, wird auch im nächsten Jahr wieder leben.