Das größte Geschenk für Bettina Bremm sind die Geschichten, die Menschen ihr anvertrauen. Geschichten aus dem Krieg, der entbehrungsreichen Zeit, die ein Leben für immer prägen. Geschichten aus dem Betrieb, den der Vater aufbaute und der Sohn naturgemäß übernahm. Geschichten über das neue Leben, die Kinder, die sie auf die Welt brachten und jetzt ihren eigenen Weg gehen. Geschichten vom Werden – und vom Abschiednehmen.
Senioren Mut machen
Bremm hört sie tagein, tagaus. Hört zu, nickt, lächelt. Seit einigen Monaten arbeitet sie als evangelische Seelsorgerin für vier Seniorenheime: in Blankenrath, Simmern, Kirchberg und Traben-Trarbach. Immer dienstags trifft man sie im Ida-Becker-Haus. Nach der Begrüßung der fleißigen Morgengruppe – fitte Damen, die zum Beispiel Kartoffeln schälen oder die Wäsche zusammenfalten – dreht sie ihre Runde durch die Flure.
Die 60-Jährige geht von Tür zu Tür, klopft an, schaut, wer ein Gespräch oder ihre Nähe sucht. „Denn es geht nicht immer ums Reden“, erklärt sie. Vielen fehlen die Worte. Sie können nicht mehr sprechen, weil das Alter oder eine Krankheit ihnen die Stimme geraubt hat. Dann sind es Berührungen, Blicke, Zuspruch oder ein Segen, den sie den Hochbetagten schenkt. So nennt sie die Menschen, meist über 80 Jahre alt, um die sie sich kümmert.
Denn es geht nicht immer ums Reden.
Bettina Bremm
Vier Tage die Woche reist Bremm von Seniorenheim zu Seniorenheim, am Freitag arbeitet sie zu Hause. Eine belastende Arbeit? Sie genießt es, sagt sie. Jahrzehntelang sah ihr Alltag so ganz anders aus: In Kirchberg hat die gebürtige Rheinländerin einen Kindergarten geleitet. Laut und hektisch ging es dort zu – nun leise und bedächtig.
Und doch haben sie vieles gemeinsam, die Kinder und die Senioren, erzählt Bremm. Die Lieder zum Beispiel. Jung wie alt sängen gerne, und gerade die alten Lieder wie „Tochter Zion“ oder „Macht hoch die Tür“, die zur Weihnachtszeit erklingen, ließen in vielen älteren Menschen reiche Erinnerungen wach werden und weckten Glücksgefühle. „Selbst die, die schon weit von uns entfernt sind, überraschen mich“, sagt sie – auch wenn Gebete wie das Vaterunser gesprochen werden. So vieles ist vergessen, diese Worte sind es nicht.
Es braucht viel Zuneigung und Berührung – das ist das, was Erzieherinnen besonders gut können.
Bettina Bremm
Auch die Art, wie sie spricht, kommt bei allen Generationen an: laut und deutlich, so können auch schwerhörige Menschen sie verstehen, sagt sie. Und in einfacher Sprache, ähnlich wie im Kindergarten. „Es braucht viel Zuneigung und Berührung – das ist das, was Erzieherinnen besonders gut können.“ Sie hört zu. Eine Antwort brauche es nicht immer.
Als die Seelsorgestelle des Kirchenkreises Simmern-Trarbach für Seniorenheime in diesem Jahr frei wurde, entschied sich Bremm für diese Veränderung auf dem letzten Stück ihres beruflichen Lebenswegs. Als Prädikantin darf sie alle Tätigkeiten eines evangelischen Geistlichen ausführen, nur keine Pfarrgemeinde leiten, erzählt sie.
Glaube spielt oft eine Rolle, aber nicht immer
Gottesdienste zählen somit ebenso zu ihrer Arbeit. Etwa zweimal im Monat wird der Altartisch in den Speisesaal des Ida-Becker-Hauses gerollt und Bremm lädt zum Gebet ein. Manche ihrer Senioren begleitet sie selbst auf dem letzten Weg, der Beerdigung. Doch nicht jeder Heimbewohner möchte sich mit dem Glauben auseinandersetzen. Auch Zweifel gehöre zum Alltag vieler alten Menschen, berichtet Bremm. Hat Gott mich vergessen? Warum hat er mich noch nicht zu sich geholt? Solche Fragen beschäftigten insbesondere kranke Menschen.
Der Blick vieler Senioren sei zurückgewandt, der Großteil des Lebens liege ja hinter ihnen. Weckt die Weihnachtszeit daher eher traurige Gefühle oder Nostalgie? „Es ist eine schöne, freudige Zeit“, sagt Bremm. Auch hier. Kerzen, Adventskränze, Weihnachtsbäume: Selbst in den entbehrungsreichsten Zeiten hätten sich die Menschen zum Weihnachtsfest Lichtblicke geschaffen und erinnerten sich daran zurück.
Leben Sie Ihr Leben jetzt. Schieben Sie nichts auf.
Ein Rat von Bettina Bremm.
Der Besuch der Familie falle vielen heute schwer. „Es ist für sie Stress und sehr anstrengend“, erzählt Bremm. Autofahrten, weite Wege, Treppen, die Lautstärke. Im Seniorenheim wüssten sie: Hier bin ich sicher und gut aufgehoben. Die Handarbeitsgruppe habe gar einen Weihnachtsbaum für den Mosel-Wein-Nachts-Markt geschmückt, mit selbst gehäkelten Sternen, mit Bonbons und Engelchen. Eine große Freude.
Das Alter habe ja auch viel Schönes, bringe Geduld und Weisheit mit sich. „Ich kann sagen, was mir gefällt, keiner stellt mehr hohe Erwartungen an mich. Das kann befreiend sein.“ Schließlich hätten sie alle ein meist hartes Leben gemeistert. Überhaupt will Bremm das Gute, das Positive sehen. Der Glaube helfe ihr dabei, gebe ihr Ruhe und Kraft. Auch ihr Sohn ist Pfarrer geworden und arbeitet inzwischen als Diakon im Schwarzwald. Im nächsten Jahr, wenn die Ruhephase ihrer Altersteilzeit beginnt, will sie ihn häufiger besuchen.
„Die Hochbetagten haben die Chance, in der Erinnerung zu leben, davon können sie zehren“, fasst Bremm ihre Erfahrungen zusammen. Und ihr Rat an all jene, die das hohe Alter noch vor sich haben? „Leben Sie Ihr Leben jetzt. Schieben Sie nichts auf.“