Eine kleine Übersicht zur Geschichte des Wissener Walzwerks
Vor 110 Jahren erstes Blech gewalzt: Ein Blick in die Historie des Wissener Walzwerks
Eine alte Postkarte zeigt die Anfänge des Wissener Weißblechwerkes. Baubeginn war im Jahr 1911.
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Im Frankenthal, wo heute Gewerbebetriebe und eine Spedition angesiedelt sind, wurde 1912 – also vor 110 Jahren – das Weißblechwalzwerk Wissen gegründet. Anlässlich des runden Geburtstages zeichnen die Wissener Heimathistoriker Bruno Wagner und Horst Rolland dessen Geschichte nach.

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Eine alte Postkarte zeigt die Anfänge des Wissener Weißblechwerkes. Baubeginn war im Jahr 1911.
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Bereits 1899 hatte die Wissener Bergwerks- und Hütten AG (unter anderem Eigentümerin des Hochofenwerks Alfredhütte – links der Sieg, am Bahnhof Wissen – und der Wissener Hütte, ab 1902 Alte Hütte) beschlossen, 50 Grundstücke im Frankenthal zu kaufen, zum Preis von 60.000 Reichsmark.

1910 entschied der Aufsichtsrat der Vereinigten Stahlwerke van der Zypen und Wissener Eisenhütten AG, das Aktienkapital um drei Millionen Reichsmark zu erhöhen und mit den neuen Geldmitteln ein Weißblechwerk zu errichten. Das Baugelände lag rechts der Sieg zwischen Bahndamm und der Bornscheidt in der Gemarkung Schönstein. Zuvor waren drei Häuser zwischen der Bahnstrecke und dem Hüttengraben abgerissen worden, unter anderem eine Gastwirtschaft und eine Gerberei.

Die Standortwahl fiel deshalb auf Wissen-Schönstein, da in Köln-Deutz (Sitz der Betreibergesellschaft) nicht genügend Gelände zur Verfügung stand. Zudem konnte das seit 1873 bestehende Hochofenwerk Alfredhütte die benötigte Energie für die Herstellung von Weißblech und für die Verzinnung in Form eines Nahwärmenetzes liefern. Auch das Lohnniveau war in hiesiger Region aus Unternehmersicht recht günstig.

Die frühere Kistenfabrik des Weißblechwerkes, ab 1926 im Ziegeleigelände Koenemund in der Hockelbach.
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Oberingenieur Karl Grosse, technischer Leiter der Vereinigten Stahlwerke, reiste nach Südwales, um Anlagen der Weißblechherstellung zu besichtigen und seine erworbenen Kenntnisse für Wissen einzubringen. Der erste Spatenstich erfolgte am 14. Januar 1911. Die Wissener Bauunternehmer Koenemund, Hahmann, Klaas wurden mit der Ausmauerung der Wasserleitung beauftragt; das Baugeschäft Metzler aus Wissen war am Aufbau der Betriebsgebäude beteiligt.

Im April begann die Montage der Werkshallen und Hallenkräne. Es folgte der Einbau der Walzgerüste sowie der für die Fabrikation benötigten Scheren, Beizanlagen, Glühöfen, Putzmaschinen und Verzinnungsherde. In 16 Drehrostgeneratoren sollten zudem Braunkohlebriketts zur Beheizung der Zinnkessel, Wärme- und Glühöfen vergast werden.

Diese und andere Produkte wurden aus dem Wissener Weißblech hergestellt.
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Nach der Inbetriebnahme der Weißblechwalzen am 12. April 1912 waren anfangs 268 Arbeiter und 17 Angestellte beschäftigt. Mehr als 60 berufserfahrene Walzer und Arbeiter hatte Ingenieur Wilhelm Krämer vom Walzwerk Rasselstein/Neuwied mit nach Wissen gebracht; er leitete den Bau des Weißblechwerkes.

Die Versandkisten für das Weißblech wurden von der Firma Hombach (Sägewerk und Kistenfabrik), Brückhöfe, geliefert. Eine neue Siedlung für die Arbeiter entstand 1912 zwischen der Hachenburger/Nassauerstraße, der Hockelbach und Langstraße sowie im Bruch (Bereich der heutigen Bergfeldstraße). In den angrenzenden Straßen dieser Walzwerkskolonie wohnten die Angestellten, Meister, Ingenieure und Direktoren.

Das größte und modernste Werk seiner Zeit in ganz Europa

Diese alte Luftaufnahme ist um das Jahr 1930 entstanden und verdeutlicht die Dimensionen des Betriebsgeländes an der Sieg.
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1913 wurden bereits 2150 Tonnen gewalzt (Weiß- und Schwarzblech). Mit dem Ausbau des Warmwalzwerkes von 12 auf 16 Walzstraßen wurden zur Weiterverarbeitung die Beiz- und Glühereianlagen gebaut (1914/15). Während des Ersten Weltkrieges mussten wegen Mangels an Arbeitskräften Frauen und Kriegsgefangene eingestellt werden. In vielen Armeekonserven fanden sich die Wissener Bleche wieder. 1917 kam es zu einem durchgreifenden Umbau des Warmwalzwerkes: Karl Grosse wurde zum Generaldirektor ernannt – noch heute trägt das Wissener Stadion seinen Namen.

Ab 1933 waren die Alfredhütte und das Weißblechwerk Wissen mit anderen Werken im Siegerland zu den Hüttenwerken Siegerland AG Siegen zusammengeschlossen. Direktor Ludwig Patt unternahm 1936 studienhalber seine zweite Amerikareise, die dem Bau der Kaltwalzanlage vorausging.

Direktor Ludwig Patt
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Generaldirektor Karl Grosse
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Von den im Deutschen Reich 1937 hergestellten 267.000 Tonnen Weißblech kamen alleine 41 Prozent (= 109.000 Tonnen) aus Wissen. Fast 3000 Mitarbeiter beschäftigte das Werk Wissen, das als das größte und modernste seiner Zeit in ganz Europa galt. Jedoch: Die am Werk vorbeifließende Sieg war zu jener Zeit bis Dattenfeld rot gefärbt. Trotz erster moderner Kläranlagen (ab 1930) führten die eingeleitete Säure zu massivem Fischsterben und das Eisensalz zum Absterben der Fauna. In einem 1929 angelegten Säureteich auf dem Sandberg (Schlackenhalde) sollte die Säure verrieseln.

Auf dem Alserberg wurde im August 1938 der erste Spatenstich für die Siedlergemeinschaft Moselland vorgenommen. Einen Großteil der 40 neuen Häuser bewohnten nach der Fertigstellung Hütten- und Walzwerksarbeiter.

Das neue Kaltwalzwerk (mit den technischen Anlagen Bandbeize, Bandentfettung, Haubenglüherei, Reversier- und Dressiergerüst) wurde am 17. Mai 1939 in Betrieb genommen. Im Zweiten Weltkrieg wurden viele Arbeitskräfte eingezogen. Mehr als 1500 ausländische Zwangsarbeiter/innen und Kriegsgefangene aus acht europäischen Ländern – untergebracht im Barackenlager „Union II“ auf der Bornscheidt in Schönstein – mussten von 1940 bis 1945 im Hochofen- und Weißblechwerk Schichtdienst leisten.

Die Schließung eines großen Werkes

In moderneren Zeiten war die elektrolytische Bandverzinnung ein wichtiger Teil des Walzwerks. Auch in der Zerteilanlage lief vieles automatisch.
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Für die Frauen im Arbeitsdienst mietete das Walzwerk die Wissener Schützenhalle in der Köttingsbach an. Besonders ab Oktober 1944 waren die Fliegerangriffe so heftig und zahlreich geworden, dass Hochofen- und Walzwerk im Dezember stillgelegt werden mussten. Mindestens 66 im Barackenlager auf der Bornscheidt internierte Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter/innen kamen durch Luftangriffe, Erschießungen, Krankheiten und Entkräftung ums Leben. Ende März 1945 wurde das Lager aufgelöst.

Anfang April 1945 nahmen amerikanische Einheiten nach teils heftigen Kämpfen ganz Wissen in Besitz; ab 10. Juli wurden sie kreisweit von den französischen Besatzungstruppen abgelöst.

Diese Aufnahme stammt ungefähr aus dem Jahr 1969. Damals stand das Wissener Weißblechwerk unter der Führung der Hoesch AG, die die Hüttenwerke Siegerland AG übernommen hatte.
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Ab Juli 1946 produzierte das Warmwalzwerk wieder an zwei Straßen. Unter dem alten Namen Hüttenwerke Siegerland AG firmierte 1952 eine Einheitsgesellschaft, die sechs Werke in Wissen, Niederschelden, Eichen, Attendorn, Langenei und Hüsten betrieb. Diese HWS AG war der größte Produzent der Branche in ganz Deutschland (7327 Mitarbeiter).

Eine technische Neuerung war ab 1956 die Installation einer elektrolytischen Bandverzinnung. Das als „Knochenmühle“ verschriene Warmwalzwerk stellte seine Walzarbeit 1962 ein. Als die Dortmund-Hörder Hüttenunion AG die Aktienmehrheit der HWS AG übernommen hatte, kam es 1961 zu einem Organvertrag. Die Hüttenwerke Siegerland AG wurden 1969 in die Hoesch AG eingegliedert; ab 1972 war der neue Firmenname „Estell Siegerland AG“, nachdem die Hoesch AG und die Niederländischen Hoogovens die neue Gesellschaft Estell NV Nimwegen gegründet hatten.

In den riesigen Hallen durchlief das Blech unterschiedliche maschinelle Straßen, hier zum Beispiel die Bandentfettungsanlage.
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Nach den höchsten Erzeugerzahlen von Roh- und Weißblech (1973/74) zwangen Rationalisierungsmaßnahmen ab 1975 zu stetiger Reduzierung der Belegschaft. Auch die Stahlkrise in den 1980er-Jahren führte zu einem merklichen Personalabbau. Mitte September 1986 wurde das Weißblechwerk (Kaltwalzwerk mit Nebenbetrieben) stillgelegt. Ab Anfang 1989 begannen die Demontage und der Abtransport nach China. Ende 1992 fusionierten die Konzerne Krupp AG (Essen) und Hoesch Stahl AG (Dortmund); der Aufsichtsrat beschloss, den Stahlstandort Wissen zum 30. Juni 1995 zu schließen. red

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