Kabarettist begeistert und "segnet" seine Zuhörer im Wäller Autokino
Vielfalt im Wäller Autokino: Jürgen Becker trotzt in Altenkirchen Regen und fehlenden Gesichtern
Obwohl hinter geschlossenen Autofenstern gelacht werden musste und es in Strömen regnete, sorgte der Kölner Kabarettist Jürgen Becker im „Wäller Autokino“ für beste Stimmung. Foto: Julia Hilgeroth-Buchner
Julia Hilgeroth-Buchner

Altenkirchen. Hätte man Jürgen Becker vor einem Jahr in Aussicht gestellt, dass er im Juni 2020 auf einem Parkplatz im total verregneten Westerwald auftreten und statt mit Applaus mit Lichthupen begrüßt würde, er hätte wahrscheinlich schallend gelacht und sich den Gag für die nächste Stunksitzung notiert. Doch genauso ist es gekommen: Der Kölner Kabarettist war zu Gast im Wäller Autokino, mit dem die Corona-gebeutelte Kulturszene gerade nach Kräften unterstützt wird. Somit konnten die Fans dem Virus ausnahmsweise dankbar sein, denn obwohl das Wasser 90 Minuten lang auf Autos und Bühne spratzte, war Becker in Topform.

Das Thema des Abends verstand sich von selbst – „Corona plus“. Jürgen Becker stocherte in seinem aktuellen Programm „Die Ursache liegt in der Zukunft“ jedoch nicht in den ohnehin offensichtlichen Missständen der Krise herum. Vielmehr hatte er sich Gedanken gemacht, wie es wohl in der postviralen Phase um die Menschheit bestellt sein wird. Doch so weit ist es noch nicht, denn Deutschland jammert gerade. Von der Autolobby bis zu den verlassenen Fußballfans, alle lechzen nach einer hoffnungsvollen Zukunft. „Der normale Mensch plant immer“, stellte Becker fest. „Unsicherheit hasst er. Deshalb haben die Deutschen die meisten Versicherungen.“ Selbst Jesus sei von diesem Phänomen nicht ausgenommen gewesen: Seine Reise in den Himmel und zurück sei kein Wunder, sondern Resultat einer Rücktrittsversicherung. Früher, ja, da sei die Welt noch in Ordnung gewesen, und die Leute hätten auf rechtschaffene Nachnamen wie Schneider oder Weber gehört. Bis die Digitalisierung Einzug gehalten habe („Ich würde heute Jürgen Backstraße heißen“). Nun sei der Mensch App-gesteuert, seine Daten transparent und sein Fahrzeug strombetrieben, was er selbst jedoch geschickt zu nutzen wisse: „Während mein Auto auf dem Ikea-Parkplatz kostenlos auflädt, haue ich mich auf ein Sofa und penne.“ Allerdings sei völlig klar, wer künftig politisch die Strippen ziehen werde: „Die Zukunft des Planeten wird nicht in Europa entschieden, sondern in einem Entwicklungslabor in China.“ Gutes Stichwort, denn nun stürzte sich der Kabarettist mit Vergnügen auf die Drahtzieher dieser Welt, allen voran Donald Trump, und deren kapitalistisches Mantra „Es wird uns immer besser gehen“.

Becker jedoch spürt, dass die Ökonomisierung bedrohlich um sich greift. Einzelhaft im Fitnessstudio statt Geselligkeit im Sportverein, die Optimierung von Eheschließungen über Elitepartner oder die Entwicklungen im Gesundheitswesen seien da nur einige Erscheinungsformen. Besonders absurd: die Fallpauschalen in den Krankenhäusern. „Inzwischen gibt es die ,Englische Entlassung'. Also noch blutig“, ätzte Becker. Seine Vision sei ein Gesundheitswesen ohne Zweiklassenmedizin, in dem Ärzte zuhören und der Mensch ein Mensch ist. Das System konzentriere sich aber lieber auf die Ausbeutung der Rohstoffe („Wenn der Weinkeller der Erde leer ist, haben wir nur noch den Mond“). Die Wirtschaft solle „angekurbelt“ werden, doch allein das Wort spreche für sich: „Das kommt noch aus der Zeit von Dick und Doof.“ Er plädiere für eine Wirtschaft ohne Raubbau und damit ohne Wachstum. „Bisher hat allerdings noch niemand erforscht, wie eine Postwachstumsgesellschaft funktioniert.“ Wie auch, die Gesellschaft befinde sich ja noch im Lockdown. Sogar die Kriminalität leide: „Durch Corona sitzen die Verbrecher arbeitslos im Gebüsch.“ Nur in Köln sei durch eine bewährte Hygienemaßnahme alles intakt: „Eine Hand wäscht die andere.“ Auch dem Karneval könne das Virus nichts anhaben, denn die Kamelle würden schließlich geworfen und nicht persönlich überreicht.

Das vorläufige Fazit geriet philosophisch: „Beim Blick auf die Zukunft stellt sich immer die Frage, was bleibt...“ Dann verschwand der Komiker, um kurz darauf als katholischer Würdenträger verkleidet und Konfetti werfend den Epilog einzuleiten. Unter den Klängen von „What a Wonderful World“ wurde mit der Generation abgerechnet, die diesen Planeten gerade sorglos zugrunde richtet. Schließlich sprang Jürgen Becker von der Bühne und „segnete“ jedes einzelne Auto, deren Fahrer begeistert die Lichthupe betätigten, per Klobürste mit Wasser – großartiges Finale einer ebenso großartigen Show.

Von unserer Mitarbeiterin
Julia Hilgeroth-Buchner

Top-News aus der Region