Ist er nun der „große Wurf“ oder eher ein „Rohrkrepierer“ – der Koalitionsvertrag, auf dessen Basis Union und SPD die künftige Bundesregierung bilden und unser Land voranbringen wollen. Auch im AK-Land gehen die Meinungen da weit auseinander – abhängig davon, aus welcher parteipolitischen Brille man das Werk betrachtet. Wir haben uns auf kommunaler Ebene im Kreis umgehört.
„Ja, der vorliegende Koalitionsvertrag ist der Befreiungsschlag, den Deutschland jetzt braucht“, sagt der CDU-Kreisvorsitzende Matthias Reuber. Für ihn beinhaltet er den Politikwechsel, „den wir als CDU im Wahlkampf versprochen haben und den unser Land gerade in der aktuellen Lage dringender denn je braucht“, so der Landtagsabgeordnete auf Anfrage unserer Zeitung. „Mit der Koalition aus CDU/CSU und SPD bekommt Deutschland nun eine handlungsfähige Regierung“, ist der Christdemokrat überzeugt. Für ihn trägt der Koalitionsvertrag deutlich die Unions-Handschrift. Von dem Sofortprogramm der CDU für Wohlstand und Sicherheit stehen 14 der 15 Punkte im Koalitionsvertrag“, so seine Begründung. Jetzt gelte es, diesen Politikwechsel in der Wirtschafts- und Migrationspolitik auch schnell umzusetzen.
„In diesen unsicheren und unberechenbaren Zeiten braucht es ein starkes Deutschland in einem starken Europa.“
Der CDU-Kreisvorsitzende Matthias Reuber
Doch Reuber räumt auch ein, dass man in Ermangelung einer absoluten Mehrheit auch Kompromisse eingehen und auch dem Koalitionspartner seine Punkte geben müsse. Dies sei sehr wichtig, denn nur so könne eine Koalition am Ende des Tages auch erfolgreich reagieren. „Eine der Kröten, die wir schlucken mussten, ist, dass das Cannabis-Gesetz der Ampel nicht abgeschafft wird, was ich auch persönlich sehr bedauere“, nennt der CDU-Mann ein Beispiel. Neben der Wirtschafts- und Migrationspolitik muss für Reuber auch die Außen- und Sicherheitspolitik im unmittelbaren Fokus der neuen Bundesregierung stehen. „In diesen unsicheren und unberechenbaren Zeiten braucht es ein starkes Deutschland in einem starken Europa. Ich bin mir sicher, dass sich Union und SPD dieser Verantwortung bewusst sind und unser Land mit den richtigen Personen in der Außen- und Sicherheitspolitik vertreten werden“, gibt sich der Landtagsabgeordnete optimistisch.
Lob für die vorliegende Vereinbarung gibt es auch aus dem Munde des Co-Vorsitzenden der SPD im Kreis, Jan Hellinghausen. „Der Vertrag markiert einen dringend notwendigen Aufbruch. Er verbindet wirtschaftliche Erneuerung mit sozialer Verantwortung und legt den Fokus auf Investitionen und Modernisierung, ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt aus dem Blick zu verlieren“, so sein Votum. Dabei sieht er durchaus auch eine Reihe sozialdemokratischer Positionen umgesetzt. „Wenn es um die Sicherung des Rentenniveaus geht, wenn es um die Erhöhung des Mindestlohns und die Stärkung der Tarifbindung geht, wenn es um Bildungsgerechtigkeit durch Investitionen in Kitas und Schulen geht, wenn es um soziale Wohnraumförderung geht, wenn es um das Deutschlandticket geht, dann ist dort und darüber hinaus die SPD-Handschrift deutlich erkennbar.
„Der Vertrag markiert einen dringend notwendigen Aufbruch. Er verbindet wirtschaftliche Erneuerung mit sozialer Verantwortung.“
Jan Hellinghausen, Co-Vorsitzender der SPD im Kreis Altenkirchen
Doch Hellinghausen stellt auch fest, dass nicht alle Vorstellungen der Genossen durchgesetzt werden konnten – das liege in der Natur der Sache eines Koalitionsvertrages. „In der Steuerpolitik wären wir gerne mit Blick auf hohe Einkommen und Vermögen weitergegangen als die Union – aber wir haben dafür gesorgt, dass soziale Gerechtigkeit kein Randthema bleibt, sondern Teil des Regierungskerns ist“, so sein Fazit. Ihm persönlich kommt jedoch der Aspekt Bildung zu kurz, insbesondere Demokratiebildung. „Hier müsste der Bund viel stärker das Heft des Handelns in die Hand nehmen, als es jetzt durch den Koalitionsvertrag deutlich wird“, legt der Lehrer den Finger in die Wunde.
Vor großen Herausforderungen steht für ihn das schwarz-rote Bündnis, gepaart mit Handlungsdruck. Hellinghausen nennt fünf Bereiche, die für ihn nun zügig angepackt werden müssen: Wachstumsimpulse für die Wirtschaft – sozial, digital und nachhaltig, beschleunigter Wohnungsbau – bezahlbar, sozial und schnell, Reformierung des Sozialstaats – einfacher, gerechter und zielgenauer, die Verteidigung der Demokratie nach innen und außen sowie die Stärkung der Digitalisierung des Staatswesens.
„Eine zügige und zeitnahe wirklich zukunftsweisende und nachhaltige Politik ist nicht zu erkennen.“
Anna Neuhof, Fraktionschefin von Bündnis 90/Die Grünen im Kreistag
Deutlich kritischer geht Anna Neuhof, Vorsitzende der Grünen-Kreistagsfraktion, mit dem vorgezeichneten Koalitionskurs ins Gericht. „Auf den ersten Blick ist ein `Befreiungsschlag’, nicht zu erkennen. Es ist eher zu befürchten, dass vor allem das Sondervermögen Infrastruktur nicht für echte strukturelle Veränderungen eingesetzt wird, sondern Klientele bedient werden. Eine zügige und zeitnahe wirklich zukunftsweisende und nachhaltige Politik ist nicht zu erkennen“, merkt sie an. Dass bedeutet für sie aber nicht, dass die Bündnisgrünen eine generelle Verweigerungshaltung einnehmen. „Wir können die Teile des Koalitionsvertrages mittragen, die sich als echte Zukunftsperspektiven erweisen. Dies wird allerdings erst praktisch werden können, wenn konkrete Maßnahmen zur Abstimmung stehen“, so Neuhof.
Allerdings zieht sie auch rote – oder besser gesagt – grüne Linien: „Alles, was Rückschritte im Klimaschutz, der Energiewende, dem nachhaltigem Ressourcenverbrauch, der sozialen Gerechtigkeit und einer integrativen Migrationspolitik entgegensteht, ist nicht hinnehmbar, ebenso wie Aufweichungen des individuellen Rechtes auf Asyl.“ Doch was schreibt eine Vertreterin der Partei, die bislang in Regierungsverantwortung war und nun aus der Opposition heraus agieren muss, der neuen Koalition ins Stammbuch? „Die Klimakrise und Energiewende, sichere und gerechte Handelsbeziehungen, Infrastruktur inklusive Digitalisierung, Stärkung der Zusammenarbeit in Europa und nicht zuletzt Bekämpfung des Rechtsextremismus sind die Themen, die die neue Regierung jetzt anpacken muss. Die Kommunen müssen endlich finanziell besser ausgestatten werden, um ihre Aufgaben auch erfüllen zu können“, betont Neuhof.