Ein Jahr Ausnahmezustand: Sabine Bätzing-Lichtenthäler berichtet, wie ihre ukrainische Kollegin Anna Bondar den Krieg in ihrer Heimat erlebt
Sabine Bätzing-Lichenthäler in Kontakt zu ukrainischer Kollegin: Einziger Wunsch ist Frieden
Über Videochat halten die ukrainische Parlamentarierin Anna Bondar (großes Foto) und die heimische Landtagsabgeordnete Sabine Bätzing-Lichtenthäler Kontakt, tauschen sich regelmäßig aus. Foto: Sabine Bätzing-Lichtenthäler

Schon über ein Jahr leben die Menschen in der Ukraine im absoluten Ausnahmezustand. Anna Bondar ist eine von ihnen. Die Parlamentsabgeordnete ist Mutter von drei Kindern, bis vor Kurzem hat ihr Mann an der Front gekämpft. Regelmäßig tauscht sie sich über die Lage in Kiew mit der heimischen SPD-Landtagsabgeordneten Sabine Bätzing-Lichtenthäler aus, die der RZ Einblick gibt in die Sorgen, Nöte und Hoffnungen ihrer ukrainischen Kollegin.

Wie kam der Kontakt zu Anna Bondar zustande?

Als Abgeordnete habe ich hier in der Region sehr früh und intensiv den Kontakt zu Ukrainerinnen gesucht, die mit ihrer Familie vor dem Krieg fliehen mussten. Bei einem solchen Besuch einer ukrainischen Familie wurde mir Annas Telefonnummer gegeben, da sie wie ich Politikerin ist. Ich habe sie dann kontaktiert, so haben wir uns kennengelernt und auf Anhieb gut verstanden. Es ist wahnsinnig wichtig, teils schockierend, aber für die richtige Einschätzung der Lage unabdingbar, von Menschen vor Ort, die in und mit diesem Krieg leben, Schilderungen zu erhalten. Das hilft enorm, Dinge richtig zu bewerten und einzuordnen.

Wie ist es für Frau Bondar derzeit in Kiew, welche Erfahrungen macht sie?

Ich habe erst vor wenigen Tagen mit Anna gesprochen. Sie hat ein sehr klares Bild der Lage. Anna ist in Kiew aufgewachsen. Sie lebt dort mit ihrem Mann und ihren drei Kindern. Sie ist froh, dass alle gesund sind. Ihr Mann ist erst vor Kurzem von der Front nach Hause gekommen, weil er die Altersgrenze für Soldaten erreicht hat. Darüber ist sie natürlich sehr erleichtert. Ich selbst mag und kann mir gar nicht vorstellen, was es für ein Gefühl sein muss, wenn der eigene Mann, die eigenen Kinder im Krieg sind. Ansonsten berichtet Anna, dass die vielen Toten, die Zerstörungen und die vielen zivilen Opfer, die sie auch insbesondere in Butscha gesehen hat, ihr die Zeit wie einen einzigen langen Tag vorkommen lassen.

Was ist ihre Einschätzung der Lage?

Auch hier ist Anna klar: Die Ukraine will überleben, sie will sich verteidigen. Dafür braucht die Ukraine Waffen. Anna sagt, wenn keine Waffen geliefert werden, wird der Krieg damit enden, dass die Ukraine als souveränes Land nicht mehr existieren wird. Dies wird für Putin das Signal sein, dass niemand ihn und seine Idee von einem russischen Großreich stoppen kann. Deswegen, so Anna, braucht die Ukraine Waffen zur Verteidigung und braucht es die Sanktionen gegen Putins Russland.

Wie sieht der Alltag in Kiew für Frau Bondar aus als Frau, Mutter, als Politikerin?

Anna ist Abgeordnete des ukrainischen Parlaments. Das Parlament tagt wieder regelmäßig, was für mich wahnsinnig beeindruckend ist und einmal mehr zeigt: So bitter und brutal alles ist, das Leben läuft weiter, die Ukraine lebt weiter. Anna arbeitet im Parlament in verschiedenen Ausschüssen und Arbeitskreisen mit. Aber sie ist darüber hinaus auch außerhalb des Parlaments ganz aktiv in der Unterstützung der ukrainischen Armee, wenn es beispielsweise um den Bau von Panzersperren aus Metall geht; Anna ist gelernte Architektin. Sie kümmert sich mit um die Logistik bei der medizinischen Versorgung in Kiew, kümmert sich um Hilfe und Nahrung für Menschen in sozialen Einrichtungen, älteren Menschen oder Menschen mit Behinderungen. Das alles hat mich tief beeindruckt. Anna steht hier exemplarisch für den unglaublichen Mut und den unbändigen Willen der Ukrainer.

Welche Bilanz zieht sie nach über einem Jahr Krieg?

Noch nie waren die Ukrainerinnen und Ukrainer so vereint wie jetzt, sagt Anna. Und nach wie vor ist die Ukraine fest entschlossen, ihr Land und ihre Freiheit zu verteidigen. Auch wenn es viele Tote, viele Verletzte, viel Leid und Zerstörung gibt, sind der Wille und der Kampfgeist der Ukrainerinnen und Ukrainer ungebrochen, sagt Anna. Ich denke dann oft, dass sich so manch ein kluger und meinungsfreudiger Kopf bei uns an diesem Willen zur Freiheit ruhig mal ein Beispiel nehmen sollte.

Wie schätzt sie die Hilfe aus Europa, besonders aus Deutschland ein?

Anna spricht stellvertretend für alle Ukrainerinnen und Ukrainer ihren großen Dank für die Hilfe und Unterstützung aus Europa aus. Erst in unserem jüngsten Gespräch hat sie erneut einen großen Dank an Deutschland gesandt. Sie dankt ausdrücklich Deutschland für die Waffenlieferungen. Deutschland hat viel für uns getan, sagt Anna.

Hat sie von dem Manifest (Schwarzer/Wagenknecht) etwas mitbekommen und wenn ja, wie steht sie dazu?

Ja, Anna hat das sogenannte Manifest für den Frieden von den beiden Initiatorinnen mitbekommen. Ich konnte vor wenigen Tagen mit ihr darüber reden. Einen kurzen Ausschnitt kann man auf meinem Twitter-Account finden. Anna hat hier eine eindeutige Haltung. Sie sagt, das Manifest sei ein wenig seltsam. Der erste Teil, in dem Frieden gefordert wird, passe nicht zu dem zweiten Teil, in dem ein Stopp der Waffenlieferungen gefordert wird. Anna sagt ganz klar: Wenn es keine Waffen zur Verteidigung gibt, wird Putin die Ukraine überrennen und sich weitere Ziele suchen. Deswegen könne das, was das Manifest fordere, nicht zum Frieden führen. Und: Für Anna ist ebenso wie für mich klar, dass dieses Manifest nichts mit Feminismus zu tun hat. Ich sage es offen: Mich hat dieses Manifest zornig gemacht. In der Ukraine leiden die Frauen, werden teilweise vergewaltigt, getötet. Das Ende der Unterstützung ist da kein Feminismus, das Ende der Hilfe für die Ukraine ist einfach nur falsch.

Was wünscht sie sich denn für ihr Land?

Frieden! Anna wünscht sich einen Frieden in Freiheit und in Selbstbestimmung für die Ukrainerinnen und Ukrainer. Kurz und knapp.

Sieht sie denn eine Chance für einen zeitnahen Frieden in ihrer Heimat?

Auch wenn wir über diese Frage nicht ausdrücklich gesprochen haben, so ist mein Eindruck, dass sich Anna, so wie die gesamte Ukraine, noch auf viele weitere Monate der Verteidigung ihres Landes einstellen und vorbereiten. In unserem letzten Gespräch sprach Anna von der Hoffnung auf Frieden – im Laufe des Jahres. Ich kann nur sagen, dass ich ihr und allen Menschen in der Ukraine von Herzen Frieden wünsche. Wir dürfen nicht aufhören, daran zu glauben, dass dieser verbrecherische Angriffskrieg Putins enden wird – und zwar nicht mit einer Niederlage der Ukraine. Ich sehe es als unsere Pflicht, die Ukraine dafür zu unterstützen. So, wie wir es bisher getan haben und weiter machen werden.

Top-News aus der Region