Interview mit dem Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Altenkirchen, Dr. Vidal
RZ-Interview mit Fachmediziner: Ursachen für Gewalt unter Kindern sind komplex
Entsetzen hat der Fall Freudenberg ausgelöst und die Frage aufgeworfen, ob Gewalt unter Kindern und Jugendlichen zugenommen hat. Zu diesem Thema sprach die Rhein-Zeitung mit Dr. Andreas Vidal, Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Altenkirchen. Symbolfoto: Oliver Berg/dpa
picture-alliance/ dpa | Oliver B

Kreis Altenkirchen. Der Fall der zwölfjährigen Luise aus Freudenberg, die mutmaßlich von zwei fast gleichaltrigen Freundinnen getötet wurde, hat nicht nur die Region tief erschüttert. Die RZ sprach in diesem Zusammenhang mit Dr. Andreas Vidal, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Altenkirchen, darüber, wie man seinen Kindern das Unfassbare erklären kann und ob Gewalt unter Kindern zugenommen hat.

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Der Fall Luise macht betroffen und fassungslos. Was raten Sie Eltern, wie man so etwas seinen Kindern erklärt?

Die Tat und der Tod von Luise machen, wie Sie sagen, betroffen und fassungslos, gleichermaßen aber auch sprachlos. Dass Eltern dies mit ihren Kindern besprechen, ist von großer Bedeutung für die individuelle Entwicklung des jeweiligen Kindes. Wie Eltern dies im Einzelnen tun können, hängt natürlich von vielen Faktoren, insbesondere auch vom Alter und der Reife der Kinder ab. Kindern sollte in einem ruhigen Ton eben genau diese Fassungslosigkeit und Sprachlosigkeit mitgeteilt werden, da man im engeren Sinne eine solche Tat nicht „erklären“ kann, zumindest nicht in dem Sinn, dass sie nachvollziehbar oder verstehbar ist.

Dennoch gehören solche Taten und Vorkommnisse zu unserer Gesellschaft leider mit dazu, und es ist wichtig, dass Kinder die Möglichkeit bekommen, dies für sich einzuordnen. Wichtig ist zu betonen, gerade wenn man die Hasskommentare in den sozialen Medien und den Wunsch nach „Selbstjustiz“ und viele unangemessene Äußerungen gerade auch von Erwachsenen im Netz wahrnimmt, dass im Gespräch mit den Kindern dies ausgeklammert wird. Eltern sollten immer auch das Vertrauen in den Rechtsstaat und die geltenden Gesetze betonen.

Nimmt die Gewaltbereitschaft bei Kindern und Jugendlichen zu? Wie ist da Ihre Erfahrung?

Das ist eine Frage, die nicht ganz einfach zu beantworten ist. Die absoluten Zahlen bei Tätern im Kindesalter (unter 14 Jahren), die schwere Gewaltverbrechen ausüben, liegt im niedrig zweistelligen Bereich und zeigt sich seit einigen Jahren stabil (polizeiliche Kriminalstatistik). Bei über 14-jährigen Kindern oder Jugendlichen steigen die Zahlen vor allem in den größeren Städten wie Hamburg und Berlin an. Was weiterhin auffällig und auch sehr beunruhigend ist, ist die Tatsache, dass sich der Wegfall von Hemmschwellen, der Umgang miteinander, schon verbal, und die Akzeptanz von sozialen Normen stark verändern.

Als klassisches Beispiel wird immer wieder benannt, dass man nicht auf Menschen, die am Boden liegen, eintritt oder schlägt. Hier ist leider in den vergangenen Jahren zunehmend festzustellen, dass diese Hemmschwellen wegfallen und ohne jeden Realitätsbezug Gewalt verübt wird. Weiterhin gibt es immer mehr Kinder, die zum Beispiel Messer mit sich führen.

Sehen Sie die sozialen Medien für Kinder und Jugendliche als mitschuldig an solchen Gewaltexzessen?

Die Ursachen für derartige expansive Gewalttaten, aber auch für Gewalttätigkeit bei Kindern und Jugendlichen generell sind sehr vielfältig und komplex. Dennoch fällt den sozialen Medien, gerade ja auch in diesem tragischen Fall, eine wichtige Bedeutung zu. Allein die Tatsache, dass offensichtlich am Tattag Videos hochgeladen wurden, aber auch die mediale Verbreitung der Reaktionen, das Leaken der mutmaßlichen Profile der Täterinnen. All das hat unvorhersehbare Folgen, die sich kaskadenhaft potenzieren und irgendwann einen kontrollierten Rahmen übersteigen. Im kinder- und jugendpsychiatrischen Alltag zeigt sich ganz besonders, dass Kinder und Jugendliche, die sich immer mehr in den virtuellen Bereich der sozialen Netzwerke und Spielewelten zurückziehen, zumindest teilweise den emotionalen Anschluss an sich selbst und das soziale Umfeld verlieren.

Dadurch sind vermutlich auch partiell der Wegfall der Wertebasis und Hemmschwellen im Umgang miteinander erheblich beeinträchtigt. Weiterhin scheint der Einfluss der sozialen Medien auf die psychische Gesundheit jedes Einzelnen eine immer größere Bedeutung zu erlangen, die mit Funktionsbeeinträchtigungen in der 'realen Welt' korrelieren.

Was halten Sie von der Debatte, das Alter der Schuldfähigkeit abzusenken?

Diese Frage lässt sich am ehesten beantworten, wenn man den Paragraf 3 Jugendgerichtsgesetz betrachtet. Hier wird angeführt, dass der Täter oder die Täterin zur Zeit der Tat nach seiner sittlichen und geistigen Entwicklung reif genug sein muss, um das Unrecht der Tat einzusehen und nach dieser Einsicht zu handeln. Diese Fragen lassen sich nur im Einzelfall durch eine umfassende Begutachtung beantworten. Für Jugendliche, die noch nicht strafmündig sind, bleibt dies juristisch aber unerheblich.

Dass die Debatte um die Absenkung des Alters für Strafmündigkeit nach einer solchen Tat aufkommt, ist keineswegs verwunderlich. Ich möchte hier jedoch ausdrücklich davor warnen, nun vorschnelle Schlüsse zu ziehen und als Reaktion ad hoc die bestehenden Regelungen zu überarbeiten. Der Grundgedanke der Strafmündigkeitsgrenze ist in Deutschland darin begründet, dass man anstelle von reiner Bestrafung vielmehr die Möglichkeiten des Erziehungsgedankens vollumfassend ausschöpfen möchte. Dies hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten als sinnvoll herausgestellt.

Sicherlich ist es gleichzeitig aber sinnvoll, dass sich die Politik die Frage stellt, ob es im Hinblick auf die sittliche und geistige Reifeentwicklung unter Umständen einer Anpassung bedarf. Im Bereich der körperlichen Entwicklung sieht man eine klare Tendenz, dass diese sich langsam zu jüngeren Jahrgängen hin verschiebt. Weiterhin sind unsere Kinder und Jugendlichen nicht nur den medialen, sondern auch vermehrt neuen kulturellen Einflüssen und starken gesellschaftspolitischen Prozessen ausgesetzt, die sich auf die sittliche Reife auswirken können.

Was können Schulen, Familien und das soziale Umfeld tun, um frühzeitig Probleme zu erkennen und Eskalationen vielleicht zu verhindern?

Leider ist Deutschland, was die Prävention und Präventionsangebote angeht, nicht unbedingt ein Vorbild. Dies gilt gleichfalls für den Bereich psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen sowie für die Gewalt und Eskalationsvermeidung. Ein ganz entscheidendes Problem, was sich häufig erst im Nachhinein zeigt, ist die Tatsache, dass in einem sozialen Kontext Auffälligkeiten bestanden, sich aber die entsprechenden Personen zurückgehalten haben, dies weiterzugeben oder die Eltern zu informieren.

Insofern ist ein ganz entscheidender Schritt die bessere Vernetzung und der bessere Austausch von Dingen, die auffallen. Dies gilt für Lehrer an Schulen ebenso wie für Eltern und die soziale Umgebung. Einige Schulen im Westerwaldkreis haben diesbezüglich begonnen, sich fortzubilden und Kontakte zu knüpfen. Es ist wichtig, dass Ansprechpartner, Jugendhilfeangebote, die allgemeine Nummer gegen Kummer und die Notfallnummern der Kinder- und jugendpsychiatrischen Abteilung bekannt sind und weitergegeben werden. Hier gilt der Grundsatz: Wir müssen alle aufmerksamer werden, wie es unseren Kindern und Jugendlichen geht.

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