Wenig vorhersehbare Sprechblasen und diplomatische Glättungen, mehr Tacheles und klare Kante – ohne Maulkorb, ohne Manuskript. Und der 78-Jährige, den Eindruck gewinnt man, prangert mit Blick auf Deutschland mehr Wunden an als er Finger besitzt, um diese dort hineinzulegen.
„Heute wird in der Politik mehr Unsinn erzählt“, schimpft er über die politische Debatte. Deutschland habe zu wenig Politiker, die so sprechen, dass die Menschen es verstehen. „Wir haben zu viele abgebrochene Soziologiestudenten, die nichts können“, wettert er offen gegen den grünen Ampel-Partner in Berlin und Mainz. Der Applaus seiner Zuhörer ist ihm sicher.
„Wir sind in Deutschland festgefahren, die Chancen für den Mittelstand werden immer geringer“, schwenkt er dann auf ur-liberalen Kurs. Er prangert eine marode, verschlissene Infrastruktur an – auf der Schiene, an den Flughäfen oder auf der Straße. „Das ist keine Geldfrage. Sie finden heute keine Betriebe, keine Fachkräfte, die diese Arbeiten erledigen.“ Diesen „Rückstau“, wie er es nennt, habe auch die SPD mitzuverantworten, die acht Jahre lang in der Großen Koalition an der Regierung beteiligt gewesen sei.
Kopfschütteln über Friedhofssatzung
Nächstes Lieblingsthema des Alt-FDPlers: Deutschland ersticke in Bürokratie. „Alle reden von Abbau, aber nichts geschieht.“ Brüderle spricht von „unsäglichem Gebabbel“. „Lesen Sie mal eine Friedhofssatzung. Es ist ein Wunder, dass Menschen bei uns überhaupt noch unter die Erde kommen“, provoziert er.
Seinen Plauder-Regler schiebt er hörbar nach unten, als es um das Thema Ukrainekrieg geht. „Oberstes Ziel muss es sein, dass Deutschland und die Nato nicht in diese Auseinandersetzung involviert werden“, fordert er. Die Entwicklung habe aber auch gezeigt, dass die Bundeswehr kein Steinbruch sei, aus dem heraus man alles andere finanzieren könne.
Beim Thema Industriestrom wird Brüderle dann wieder kämpferischer: „Wenn ich die Großindustrie hier mit 35 Milliarden Euro subventioniere, woher kriegt dann der Mittelständler den Strom, der für ihn noch bezahlbar ist?“ Immer mehr Steuerung – das kann einem Liberalen nicht schmecken. „Wir haben ein anderes Menschenbild“, hält er ein Plädoyer für mehr Pluralität, mehr Chancen der Entwicklung. Diese sieht er aktuell aber durch ein sich verschlechterndes Bildungssystem in Gefahr. „Heute kommen 25 Prozent der Kinder aus der Grundschule und können nicht einmal richtig lesen und schreiben“, fasst er sein Unverständnis und sein Kopfschütteln in Worte.
Brüderle spricht von Alarmzeichen, die sich in Deutschland breit machen, fordert ein Aufwachen. „In diesem Land müssen einige mehr den Hintern heben“, bringt er es auf einen kurzen Nenner. Konkrete Lösungsansätze über liberale Ideologien hinaus bleibt er seinen Zuhörern schuldig.
Gedenken an Bauckhage
Was der Gonsenheimer der heimischen FDP-Riege bei seinem zweistündigen Ausflug an die Sieg nicht schuldig bleibt, ist gleich zu Beginn seiner Rede die Grußadresse an einen „aufstrebenden Kreisvorsitzenden Christian Chahem“ und die Würdigung seines 2018 verstorbenen Freundes Hans-Artur Bauckhage, der für ihn immer untrennbar mit dem Norden von Rheinland-Pfalz verbunden bleibe.
Und mit der Anekdote, wie der damalige Justizminister Peter Caesar und er den Daadener dazu gedrängt haben, 1999 Wirtschaftsminister in Mainz zu werden, hat er die Zuhörer gleich auf seiner Seite. „Ich kann das nicht, ich bin ja nur ein Handwerksmeister“, habe Bauckhage abgewunken. „Gerade weil du ein Handwerksmeister bist, kannst du es“, habe er damals erwidert. Und auch, wenn er es in Wissen nicht ausgesprochen hat: Wahrscheinlich war und ist Bauckhage in Brüderles Augen genau der Typ Politiker, die er heute schmerzlich vermisst.