Vor allem der tiefe Blick 70 Jahre zurück, auf das Kriegsende und das Zwangsarbeiterlager in Wissen, auf die Verstrickung des damaligen Weißblechwerkes, wirkt aufklärerisch, setzt Emotionen frei, findet den persönlichen Zugang. Professionell gefilmte Zeitzeugeninterviews, dazu Schülerarbeiten, historische Fotos und Aussagen eines Militärhistorikers – die Nachtschicht rückte all das ins Licht, was in Wissen über Jahrzehnte hinweg kaum ernsthaft besprochen wurde. Ganz stark auch die Idee, die Zuschauer einzubeziehen – durch Hunderte kopierter Karteikarten ehemaliger Zwangsarbeiter im Walzwerk und durch ebenso viele Kieselsteine, die in naher Zukunft als weiteres Mahnmal an das Zwangsarbeiterlager auf der Bornscheidt erinnern sollen (zwischen 1940 und 1945 mit rund 1500 Menschen aus West- und Osteuropa das größte im Kreis).
Nie zuvor hat der Arbeitskreis Kultur der Wissener Zukunftsschmiede (Wissener Eigenart) derart viel Kraft, Recherche, Kreativität und Entschlossenheit in die Nachtschicht gesteckt. Gewiss: Solch „Dunkle Zeiten“ mögen harte Kost sein, aber sie gehören zur Identitätsfindung.
Das Ergebnis spricht für sich: In Zusammenarbeit mit der Kulturwerk GmbH, der Kreismusikschule, dem Tanz(t)raum Balé (Köttingen) sowie weiterer Künstler und Mitwirkender, dank der Sponsoren, ist ein berührendes Stück Industriekultur Westerwald-Sieg entstanden. Geplant ist, dass Teile davon in Wissen ihren festen Platz erhalten werden.
Mit ihrer fünften Auflage hat die Wissener Nachtschicht mehr als deutlich unterstrichen, dass sie im großen Reigen der kreisweiten Kulturveranstaltungen eine eigene Marke ist. Die Zuschauer schätzen diese Melange aus Nachdenklichem und Heiterem, aus eigener Krea-tivität und professioneller Bühnenshow, aus lokalen Wurzeln und dem Mut zum Neuen, aus Musik, Tanz und Bildern.
Auf dieser Basis gewinnt auch die fünfte Nachtschicht schnell die Gunst des Publikums. Selbst das Motto „Dunkle Zeiten“ und die ausführliche Beschäftigung mit schwierigen Themen wie Krieg und Zwangsarbeit schrecken nicht ab, im Gegenteil. Dem Grauen mit offenen Augen und Ohren begegnen, das Leid hinterfragen, den Wert des Erinnerns erkennen – darin liegt vielleicht der primäre Verdienst dieser Nachtschicht.
Dass die Kunstwelt mannigfache Schlüssel bereithält, um etwa Vorurteilen zu begegnen oder Verzweiflung auszudrücken, durften die Besucher im Kulturwerk erfahren. Erstens anhand der Gemälde und Skulpturen von Otto Pankok, der in den 1930er-Jahren seiner freundschaftlichen Nähe zu etlichen Romafamilien in Düsseldorf Ausdruck verlieh. Zweitens anhand der Darbietung des Projektchores der Kreismusikschule (Der Geheime Küchenchor). Mit dem Asma Asmaton, dem „Lied der Lieder“ aus dem Mauthausen-Zyklus von Mikis Theodorakis, knüpften Chor und Instrumentalisten großartig an die Aufführung in der polnischen Partnerstadt Krapkowice an. Ein Höhepunkt, jede Note, jeder Akteur, inklusive Landrat Michael Lieber als Rezitator. In der Summe wird die Nachtschicht zu einem Friedensappell.
Zwei weitere Programmpunkte lassen keinen Zweifel daran, was am besten gegen „Dunkle Zeiten“ hilft: Licht! Licht in Form von LED-Leuchten, wunderschön drapiert und ferngesteuert auf den Kostümen der Tänzerinnen des Tanz(t)raums Balé. Licht in Form von Flammen, lodernd und wirbelnd, zu krachender Musik gebändigt von der Gruppe Firedancer aus dem hessischen Dreieich.
Fazit: Für die sechste Nachtschicht liegt die Messlatte sehr hoch. Auf ein Wiedersehen im Jahr 2017. elm