Mit etwas Verspätung – sein Zug aus Köln war ausgefallen – traf Kermani ein und packte sein neuestes Werk „Das Alphabet bis S“ aus, ein eher fragmentarischer Roman, der sich wie ein Tagebuch liest und entsprechend 365 Kapitel, beziehungsweise Einträge hat. Schwere Kost, folgt man doch der namenlosen Erzählerin durch ein Jahr voller Tiefpunkte. Sie ist getrennt vom Mann, entfremdet vom Sohn und muss die eigene Mutter zu Grabe tragen.
Durch die kurzen Kapitel und Kermanis Sprachgewalt und Sprachwitz wirkt die Lektüre trotzdem niemals erdrückend. Allerdings liegt der Genuss an diesem Abend weniger beim Lauschen des Vorgetragenen, sondern im Geplänkel Kermanis mit dem Literaturdezernenten des Ministeriums für Kultur, Michael Au. Dieser hatte den Autor in der Bahn zur Buchmesse getroffen und gleich eingeladen für die kommenden Literaturtage. Kermani, der aus Siegen stammt, seine autobiografisch angelegte Protagonistin jedoch aus Altenkirchen kommen lässt, sagte gerne zu.
Einblicke in die Gedankenwelt
Und konnte so viele, interessante Einblicke in den Entstehungsprozess des Buches und in seine Gedankenwelt geben. So habe er für die Rohfassung der journalartig angelegten Werkes genau ein Jahr gebraucht. Allerdings habe das Schreiben dann fünf Jahre in Anspruch genommen.
Warum er eine weibliche Perspektive gewählt habe und warum Altenkirchen als Heimat, will Michael Au wissen und bringt den redegewandten Autor damit ins Nachdenken. Er habe damit eine Unschärfe herstellen wollen, gibt Kermani irgendwann zu. Nah genug an sich selbst dran, und doch mit verrückter Sicht. „Und warum dann nicht aus Sicht eines transidenten Dachdeckers?“, will Au wissen.
„Die Frage wird mir immer wieder gestellt“, sagt Kermani und erntet viele Lacher. Tatsächlich geht es aber um die Frage, warum die weibliche Sicht auf die Welt. Es habe ihm einfach die Möglichkeit gegeben, auf die gleichen Dinge mit einem ganz neuen Blick zu schauen. Er selbst habe bei diesem Roman im Voraus genauso wenig gewusst, wohin sich die Geschichte entwickelt, wie es die Leser wissen, gibt Kermani zu. „Man weiß ja am 1. Januar auch noch nicht, wohin sich das Jahr entwickelt, egal, was man sich überlegt hat.“
Fragen der menschlichen Existenz
So habe eine allmähliche Verfestigung der Gedanken beim Schreiben stattgefunden. Wie so oft in den Werken des Autors geht es um ganz grundlegende Fragen der menschlichen Existenz: Leben, Liebe, Tod, Vergänglichkeit. Das alles immer in Bezug gestellt zur Religion – Kermani wuchs als Sohn gläubiger Muslime auf, nahm aber anders als der Vater und die Brüder nicht den Weg in die Medizin, sondern entdeckte die Macht der Worte für sich. Insofern ist sein Roman auch eine Verbeugung vor dem schreibenden Ich, welches die Gabe hat, das Hier und Jetzt zu durchbrechen und Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzuführen.
Es geht in diesem Werk aber auch um Literatur, die Kermani selbst schätzt oder die er im Schreibprozess für sich entdeckt hat und nun durch seine Protagonistin auch seinen Lesern ans Herz legt. Darum, so Au, sei das Buch im wahrsten Sinne ein Fest der Literatur und lade dazu ein, nicht nur Kermani, sondern auch andere Autoren zu entdecken. Daran angelehnt ist im Übrigen auch der Titel, da sich die Protagonistin vornimmt, ihre ungelesenen Bücher in alphabetischer Reihenfolge abzuarbeiten – sie kommt aber nur bis S. Warum, das lohnt sich in jedem Fall selbst nachzulesen.
Ein nahbarer Literat
Doch nicht nur um das Buch geht es an diesem Abend. Auch um Kermani, der 2017 von den Grünen als Bundespräsident vorgeschlagen worden war und eine viel beachtete Rede zum 65. Jahrestag des Grundgesetzes gehalten hat. Seine klare Sicht auf die Dinge, aber auch seine freundliche, menschliche Art machen ihn im besten Sinne nahbar an diesem Abend. Vor allem für Fans des 1. FC Köln...