Geschlagene zwei Stunden im Berufsverkehr muss Brigitte Rauscher dienstags aufbringen, um pünktlich um 19.30 Uhr mit der Probe der Altenkirchener Kantorei beginnen zu können. Der Dienstort der Landeskirchenmusikdirektorin der Evangelischen Kirche im Rheinland ist seit dem vergangenen Jahr nämlich Düsseldorf. Deshalb hat die passionierte Chorleiterin, die seit Anfang Februar Kreiskantorin Hyejoung Choi vertritt, für das Interview mit unserer Zeitung bewusst einen der wenigen Abende ausgewählt, an dem sie aus ihrer Heimatstadt Troisdorf in Richtung Westerwald und damit deutlich entspannter in den Probenabend starten kann.
Mit dem 18-Uhr-Geläut trifft Brigitte Rauscher ein und ist trotz eines anstrengenden Arbeitstages sehr gerne zum Gespräch bereit. Zumindest so lange, bis die ersten Sängerinnen und Sänger im Martin-Luther-Saal der Christuskirche eintrudeln. Dann nämlich wird Johann Sebastian Bachs „Johannes-Passion“ an erster Stelle stehen.
„Für mich ist fokussierte Chorarbeit immer eine Kraftquelle. Wenn ich nach Hause fahre, geht es mir gut und ich zehre davon.“
Brigitte Rauscher vertritt derzeit Kreiskantorin Hyejoung Choi – neben ihrem Beruf als Landeskirchenmusikdirektorin
Kurzer Blick zurück: Hyejoung Choi hatte das anspruchsvolle Chorprojekt bereits mit viel Engagement angekurbelt, als sich bei ihr Nachwuchs ankündigte. Es fügte sich günstig, dass sich die beiden Chorleiterinnen bereits aus dem Chorverband in der Evangelischen Kirche im Rheinland und durch ein gemeinsames Konzert kannten. „Als Hyejoung mich fragte, ob ich jemanden für die Vertretungsphase wüsste, habe ich nachgedacht und mich dann selbst gefragt“, verrät Brigitte Rauscher schmunzelnd.
Die nicht unerheblichen Umstände, die die Vertretung in Altenkirchen mit sich bringt, nimmt die Musikerin gerne auf sich. „Für mich ist fokussierte Chorarbeit immer eine Kraftquelle. Wenn ich nach Hause fahre, geht es mir gut und ich zehre davon.“ Es sei ihr sehr wichtig, trotz des hochrangigen Amtes den Kontakt zur Basis nicht zu verlieren. Nach der Berufung zur Landeskirchenmusikdirektorin (ein „Vollzeitjob plus“) sei die Arbeit mit ihren sieben Troisdorfer Gemeindechören zunächst noch weitergelaufen. „Ich habe am 1. September 2024 in Düsseldorf angefangen, konnte aber meine laufenden Projekte vor der Übergabe an die jeweiligen Nachfolger alle noch abschließen.“
63-Jährige ist im Süden Brasiliens aufgewachsen
Durch den neuen Posten ist Brigitte Rauscher nun nicht mehr als Kantorin der Evangelischen Kirchengemeinde Troisdorf und als Kreiskantorin tätig. Hat es ihr auch ein wenig leidgetan, ihr „altes Leben“ ein Stück weit hinter sich zu lassen? „Ich brauchte eine Bedenkzeit, weil ich in einer sehr schönen Phase meiner Arbeit mit den Chören war. Gleichzeitig war es natürlich eine Ehre, gefragt zu werden, ob ich das Amt übernehmen würde. Es bot sich zugleich auch die Gelegenheit, mich am Ende meiner Laufbahn neu zu orientieren.“
Apropos: Die Vita der Musikerin liest sich wirklich aufregend, denn die 63-Jährige wuchs im Süden Brasiliens auf. „Mein Vater und meine Großeltern mütterlicherseits sind ausgewandert. Meine Heimatstadt Curitiba ist stark europäisch geprägt, hat heute über zwei Millionen Einwohner und entwickelt sich rasant.“ Zweimal im Jahr fliege sie dorthin, um ihre Mutter und die Familie ihres Bruders zu besuchen. „Ich habe in den letzten Jahren auch etliche Kontakte reaktiviert und freue mich immer, Portugiesisch sprechen zu können.“

Brigitte Rauscher studierte zunächst ihrem Heimatland Psychologie, Orgel und Klavier, später dann Orgel, Kirchenmusik und Chorleitung an den Musikhochschulen Köln und Düsseldorf. Das kosmopolitische Leben in Brasilien habe sie sehr geprägt, und dennoch lebe sie seit 24 Jahren gerne in Troisdorf mit seiner idealen Anbindung nach Bonn und Köln und der Nähe zum Grünen.
Nun macht Brigitte Rauscher die neue Bekanntschaft der Westerwälder Sänger. Da die Aufführung der „Johannes-Passion“ für 2026 geplant ist, ist der Zeitdruck noch moderat. „Hyejoung Choi und ich sind uns für die Übergabe eigentlich gar nicht begegnet, aber sie hatte alles sehr gut vorbereitet. Ich wusste aus ihren Mails, welche Sätze des Werkes schon geprobt wurden und habe mir vorgenommen, etwas Bekanntes und etwas Neues einzustudieren.“ Schnell habe sich herausgestellt, dass eine Mitwirkung im Karfreitagsgottesdienst möglich ist.
Bei Probenarbeit werden auch musikalische Rollen eingeübt
„Der Fokus liegt bis zu diesem Termin darauf, dass wir Stücke aus dem Werk wirklich auf den Punkt bringen. Diese sind dann fürs nächste Jahr schon gut vorbereitet.“ Grundlage ihrer Arbeit sei, den Sängern musikalische Erfahrungen und ein intensives Lernen zu ermöglichen. Es sei ein Wechselspiel zwischen dem Einstudieren der Noten und des musikalischen Textes und einem gleichzeitigen Begreifen des Werkes. „Ich pflege zu sagen, dass der Chor in der Johannes-Passion viele ,Rollen` hat. Die Sänger sind beispielsweise die aufgebrachte Menge oder Zuhörende am Rande des Geschehens. Es hat etwas sehr Szenisches. Diese Rollen müssen dem Chor klar sein, und daran arbeiten wir ganz stark. Wenn Hyejoung Choi aus der Elternzeit zurückkehrt, dann wird es natürlich so gemacht, wie sie es sich vorstellt. Aber ich glaube, da gibt es einen Konsens.“
Wenn Brigitte Rauscher dann Abschied nimmt, wird sie als Landeskirchenmusikdirektorin weiterhin extrem eingespannt sein. Darüber hinaus ist sie Vizepräsidentin des Chorverbandes in der Evangelischen Kirche in Deutschland, ständiges Mitglied im Kulturausschuss des Deutschen Evangelischen Kirchentages und in der Projektleitung Kirchenmusik für den Kirchentag 2025 in Hannover. Mit großem Einsatz widmet sie sich auch dem Thema „Alternde Stimmen im Chor“.

Und doch hat das praktische Musizieren einen festen Platz in ihrem Leben. Davon können sich die Altenkirchener Sänger an diesem Abend einmal mehr überzeugen: Das Einsingen, das die Chorleiterin mit Temperament und Fantasie gestaltet, reißt einfach alle mit – von der anschließenden Arbeit an der Passion ganz zu schweigen.
Die Kantorei würde sich übrigens freuen, wenn sich noch neue Sänger anschließen würden. Sie lädt deshalb herzlich zu den Proben ein, die dienstags von 19.30 Uhr bis 21.30 Uhr im Martin-Luther-Saal (Untergeschoss der Christuskirche) stattfinden. Auch eine Hospitation ist möglich.